Hochsubventioniert: Warum die Schweiz so viel für ihre Zuckerproduktion zahlt
Zwischen Oktober und Dezember werden in der Schweiz mehr als 1,5 Millionen Tonnen Rüben geerntet. Sie speisen die einheimische Zuckerindustrie, die ohne massive staatliche Unterstützung nicht überleben könnte. Eine Reportage aus der grössten Zuckerfabrik des Landes in Aarberg.
In der Ferne steigt dichter weisser Rauch aus dem Morgennebel des Berner Seelands auf. Als wir uns der riesigen Zuckerfabrik in Aarberg nähern, die im Herzen des «Gemüsegartens» der Schweiz liegt, tauchen nach und nach grosse Lagertanks aus dem Nebel auf. Die Gerüche von Karamell und Erde vermischen sich in der Luft. Vor den Toren der Fabrik fahren unablässig Lastwagen, Traktoren und Züge auf, um ihre riesigen Zuckerrüben-Lieferungen zu entladen.
Zwischen Oktober und Dezember, in der Erntezeit der Zuckerrüben, werden pro Arbeitstag fast 10’000 Tonnen dieses Wurzelgemüses aus der ganzen Schweiz nach Aarberg gebracht. Hier werden die Rüben gereinigt, zerkleinert und anschliessend in einem Prozess zu Zucker verarbeitet, der sich seit der Gründung der Fabrik im Jahr 1912 kaum verändert hat.
Während der Hochsaison herrscht sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag reges Gewimmel: Ein Team folgt auf das andere, um die fast voll automatisierte Produktion von gegen 1000 Tonnen Zucker pro Tag zu überwachen.
Preise im freien Fall
Zusammen mit der Produktion der zweitgrössten Zuckerfabrik der Schweiz in Frauenfeld im Osten des Landes stellt die einheimische Zuckerindustrie pro Jahr rund 270’000 Tonnen Zucker her. Mehr als zwei Drittel davon gehen an Unternehmen in der Schweizer Nahrungsmittelindustrie (z.B. an die Getränkehersteller Red Bull und Rivella, den Nahrungsmittelriesen Nestlé oder die Schokoladenfabrik Lindt).
«Die Schweiz hat bei Zucker einen Selbstversorgungsgrad von fast 65%», sagt Raphael Wild, Kommunikationsverantwortlicher der Schweizer Zucker AG, der die Zuckerfabriken in Aarberg und Frauenfeld gehören. Der Rest wird aus der EU importiert; mit Ausnahme von 3300 Tonnen Zuckerrohr aus Mauritius.
Diese einheimische Branche ist jedoch sehr anfällig. Der Handelspreis für Schweizer Zucker richtet sich nach dem Weltmarktpreis, der durch zahlreiche Faktoren beeinflusst wird. Durch die bilateralen Abkommen ist der Handelspreis auch direkt an die Preise in der EU gekoppelt. Und diese sind gesunken, seit Brüssel im Jahr 2017 die Produktionsmengen freigegeben und die Exportbeschränkungen aufgehoben hat. Dies hat viele Bäuerinnen und Bauern dazu getrieben, den Anbau von Zucker als zu unrentabel aufzugeben.
Steigende Subventionen
In weniger als einem Jahrzehnt ist die Anbaufläche für Zuckerrüben von 20’000 auf 16’500 Hektaren gesunken. Sie macht heute weniger als 2% der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Landes aus. In der Schweiz gibt es nur noch rund 4500 Landwirte und Landwirtinnen, die Zuckerrüben anbauen, vor fünf Jahren waren es noch 6000.
Chaque jour entre octobre et décembre, près de 10'000 tonnes de betteraves sont transformées en sucre à Aarberg (BE). Une filière qui ne survivrait pas à la concurrence étrangère sans le soutien massif de l'État. Un reportage à découvrir prochainement sur @swissinfo_frExterner Link pic.twitter.com/chJhPqHk45Externer Link
— Samuel Jaberg (@samueljaberg) October 28, 2021Externer Link
Um diesen Rückgang zu stoppen, erhöhte der Bund 2018 seine Beiträge für den Zuckerrübenanbau. Sie belaufen sich nun auf 2100 Franken pro Hektare, 300 Franken mehr als zuvor. Auch die ökologische Produktion wird stärker unterstützt. Und es wurde ein Zollschutz von mindestens 70 Franken pro Tonne Zucker beschlossen. Diese Massnahmen wurden bis 2026 verlängert und vom Parlament im September gesetzlich verankert.
«Die Preise steigen wieder. Das liegt unter anderem an Wettereinflüssen in Ländern wie Brasilien oder Indien», sagt Raphael Wild.
Trotz dieser Marktaufhellung unterstreicht der Vertreter des einzigen Unternehmens, das in der Schweiz Zucker herstellt, jedoch, dass es ohne staatliche Unterstützung unmöglich wäre, mit der ausländischen Konkurrenz mitzuhalten. «Es ist klar, dass wir ohne die Beiträge des Bundes an die Rübenbauern, von denen wir indirekt profitieren, bei der Auslastung der Fabriken Probleme erhalten, weil zuwenig Rüben geliefert würden», sagt er.
Ist Schweizer Zucker nachhaltiger?
Doch warum braucht die Schweiz überhaupt einheimischen Zucker? Könnte sie ihn nicht auch aus dem Ausland beziehen, da sie ohnehin schon fast die Hälfte ihrer Lebensmittel importiert?
Die Zuckerindustrie verweist auf den ökologischen Vorteil der Produktion in der Schweiz. «Schweizer Zucker ist 30% nachhaltiger als der in der EU hergestellte», sagt Raphael Wild. Er beruft sich dabei auf eine von der Schweizer Zucker AG in Auftrag gegebene StudieExterner Link.
Vision LandwirtschaftExterner Link, eine Denkwerkstatt unabhängiger Agrar-Fachleute, die sich für eine nachhaltige und wirtschaftlich starke Landwirtschaft einsetzt, bestreitet diese Schlussfolgerungen. Beim Zuckerrübenanbau würden öfter Pestizide eingesetzt als bei fast allen anderen Ackerkulturen. Zudem sei er anfällig für Erosion und führe zu starken Bodenverdichtungen, kritisiert die Organisation.
Zuckerrübenkulturen werden regelmässig von der Virusgelbsucht befallen; der Virus wird von einer Blattlaus übertragen. Seit dem 1. Januar 2019 dürfen die Rübenbauern und -bäuerinnen das Mittel «Gaucho» nicht mehr verwenden, um ihr Saatgut vor der Aussaat zu behandeln. Das auf Neonicotinoiden basierende Pestizid wurde wegen seiner Toxizität für Bienen und Wasserorganismen verboten.
Dies hat zur Folge, dass die Bauern und Bäuerinnen die befallenen Rüben entweder viel häufiger mit den noch zugelassenen Insektiziden spritzen, Verluste in Kauf nehmen oder den Anbau einstellen müssen. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) hat die Anträge aus landwirtschaftlichen Kreisen auf eine befristete Wiedereinführung von «Gaucho» bisher abgelehnt.
Der Kanton Freiburg reichte zudem seinerseits im September eine Initiative im Schweizer Parlament ein, um eine provisorische Bewilligung zum Einsatz dieses umstrittenen Insektizids zu beantragen. Es gehe um das Überleben der gesamten Schweizer Zuckerindustrie, so die kantonalen Freiburger Parlamentsabgeordneten hinter dem Vorstoss.
Die Produktion von Zuckerrüben kostet die Steuerzahler:innen viel Geld, etwa 70 Millionen Franken pro Jahr. «Das entspricht fast 4000 Franken Subventionen pro Hektare, mehr als für die meisten anderen Kulturen», sagt Vision Landwirtschaft.
Als weiteres Argument für die einheimische Zuckerproduktion wird die Versorgung des Landes im Krisenfall angeführt. Zucker gehört zu den Lebensmitteln, die vom Bund eingelagert werden, um eventuelle Engpässe zu überbrücken. Die strategischen Reserven sollen ausreichen, um drei Monate des inländischen Verbrauchs zu decken.
«Zucker gilt als lebenswichtiges Gut und unterliegt der Pflichtlagerhaltung gemäss Landesversorgungsgesetz», schrieb der Bundesrat im Februar als Antwort auf eine MotionExterner Link der SP-Abgeordneten Ursula Schneider Schüttel, um seine Unterstützung für die Branche zu begründen.
Doch auch in dieser Frage gibt es Kritik. «Falls wir in einer Krise auf uns selbst gestellt wären, könnten wir auch nicht löffelweise Zucker essen», sagte zum Beispiel Patrick Dümmler von der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender SRF. Es sei auch gesundheitlich eine falsche Strategie. «Deshalb denke ich, dass die Bedeutung für die Versorgungssicherheit übertrieben ist.»
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
Im Jahr 2020 betrug die weltweite Zuckerproduktion 180 Millionen Tonnen, wovon fast 80% aus Zuckerrohr hergestellt wurden.
Brasilien ist der grösste Zuckerproduzent der Welt, vor Indien und China. Deutschland, die USA und Frankreich sind ihrerseits die drei grössten Zuckerrübenproduzenten der Welt.
Der durchschnittliche weltweite Zuckerverbrauch liegt bei etwa 25 Kilogramm pro Kopf und Jahr. In der Schweiz konsumiert heute jeder Einwohner, jede Einwohnerin durchschnittlich 39 Kilogramm Zucker pro Jahr, gegenüber nur 3 Kilogramm im Jahr 1850.
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