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Nie mehr pendeln!

Pendlerin
© Keystone / Gaetan Bally

Die Corona-Krise hat Homeoffice zum Massenphänomen gemacht. Viele Menschen können dank ortsunabhängigem Arbeiten ins Grüne ziehen. Wie wirkt sich das auf die Besiedelung der Schweiz aus?

Der Raumplaner Paul Schneeberger und der Urbanist Joris Van Wezemael haben ein BuchExterner Link darüber geschrieben, wie die Corona-Krise zu dezentralem Wohnen und weniger Pendeln führen könnte. Ihrer Meinung nach wird die Pandemie als Katalysator wirken – ähnlich revolutionär wie die Erfindung des Autos.

swissinfo.ch: Sie sagen, wir befänden uns an einem Wendepunkt.

Joris Van Wezemael: Die Corona-Krise hat zu einer fundamentalen Verschiebung geführt: Dank Homeoffice arbeiten viele Menschen dort, wo sie auch wohnen. Rein technologisch wäre das schon seit etwa zehn Jahren möglich. Zum Alltag geworden ist Homeoffice aber erst jetzt.

Die Pandemie geht irgendwann zu Ende. Auch das Homeoffice?

Van Wezemael: Laut Studien und Befragungen wird die Verschiebung nachhaltig sein. Man geht davon aus, dass die meisten Leute zwischen ein und drei Tagen zu Hause arbeiten werden. «Zurück zur Normalität» im Sinne von 100% im Büro, das wird es nicht mehr geben.

Paul Schneeberger: Der entscheidende Punkt der Pandemie ist der erbrachte Tatbeweis: Niemand kann mehr behaupten, Homeoffice funktioniere nicht. Etwa 40% der Dienstleistungsberufe können aus dem Homeoffice erledigt werden.

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Wenn die Leute dank Homeoffice nicht mehr pendeln müssen und vermehrt ins Grüne ziehen: Führt das nicht zu einer noch stärkeren Zersiedelung der Schweiz?

Schneeberger: Das ist bereits eine Tatsache: In den letzten Jahren hatte man in den Städten ein starkes Arbeitsplatzwachstum, die Bevölkerung hingegen wuchs vor allem in den ländlichen oder halbländlichen Regionen. In dem Sinne schafft die Pandemie keinen neuen Trend, sondern fängt das auf, was in den letzten Jahren ohnehin stattfand.

Es bleibt also, wie es ist, die Leute pendeln einfach weniger?

Schneeberger: Genau.

Bahngleise Zürich
Blick über Zürich. Christian Beutler

Van Wezemael: Bisher hat man die Zersiedelung immer als Nachteil gelesen. Die Krise hat nun gezeigt, dass man das Bestehende nachhaltiger nutzen könnte. Dank Homeoffice verbringen die Menschen mehr Zeit an ihrem Wohnort, gehen dort auswärts essen und einkaufen, statt in die Stadt zu fahren. Durch verringerte Mobilität wird dezentrales Wohnen nachhaltiger. Wir müssen einfach das, was schon bebaut ist, anders nutzen.

Schneeberger: Was heute Wohnort ist, soll zum Lebensort werden.

Egerkingen
Vom Bauerndorf zum Schlafdorf: Egerkingen im Kanton Solothurn. Keystone

Das heisst?

Schneeberger: Wenn sich die Leute mehr an ihren Wohnorten aufhalten, belebt das das lokale Gewerbe. Sie kaufen dann weniger auf dem Pendlerweg ein, sondern in der eigenen Nachbarschaft, oder sie gehen dort ins Fitnesscenter, wo sie wohnen und nicht irgendwo auf dem Arbeitsweg.

Van Wezemael: Selbstverständlich passiert das nicht automatisch. Wir müssen gezielt Trends verstärken, die eine dezentrale Lebensweise unterstützen. Und wir müssen Trends abschwächen, die nicht nachhaltig sind, wie beispielsweise den Wunsch nach grösseren Wohnungen oder einem zusätzlichen Zimmer fürs Homeoffice. Wir sind als Gesellschaft und Politik gefragt.

Ein Bürostuhl und unerledigte Arbeit im Schlafzimmer können aber stören, ein zusätzlicher Raum wäre da ganz hilfreich. Oder sehen Sie andere Möglichkeiten?

Schneeberger: Eine Alternative zu grösseren Wohnungen sind klug konzipierte Siedlungen, in denen es statt zusätzlichen Zimmern in den einzelnen Wohnungen Räume gibt, die tage- oder stundenweise zum Arbeiten zugemietet werden können. Also eine Art Büro-Teilen vor Ort. Und Co-Working-Spaces, von denen aus sich Büroarbeiten dezentral erledigen lassen, sind ja schon weit verbreitet – nicht nur in Städten, sondern auch an so peripheren Orten wie Meiringen oder Scuol.

Wie muss die Raumplanung reagieren?

Schneeberger: Sie muss sich an die neue Realität anpassen. Die Pandemie hat viele traditionelle Gefässe ausser Kraft gesetzt. Wie geht man beispielsweise mit Wohnzonen um, wenn jede Wohnzone durch Homeoffice gleichzeitig eine Arbeitszone ist? Da besteht Regulierungsbedarf. Mischzonen sollten zur Normalität werden.

Van Wezemael: Auch Grünräume müssen neu gedacht werden. Wälder im Agglomerationsraum bilden zukünftig nicht mehr den Rand einer Siedlung, sondern dienen als eine Art Central Park für die umliegenden Gemeinden.

Waldspaziergänger
Spaziergänger:innen bei Ringlikon, Kanton Zürich. © Keystone / Christian Beutler

Ist die Schweiz ein Sonderfall, weil sie als typisches Pendlerland schon bisher dezentral gebaut war?

Schneeberger: Es gibt Länder wie die Schweiz oder Holland, die stärker prädestiniert sind für dezentrale Siedlungsnetze. In Deutschland mit den grossen weiten Ebenen stellen sich andere Fragestellungen und erst recht in Ländern wie den USA oder Kanada. Die ganze Schweiz ist eine Art dezentrale Stadt mit gleich vielen Einwohner:innen wie die Stadt New York.

Van Wezemael: In der Schweiz haben wir dank Wohlstand und Föderalismus eine gute Infrastruktur bis in die hintersten Täler. Nicht nur Verkehr, Abfallentsorgung und Volg-Läden, sondern auch gute Wohnungen und Arbeitsplätze. Wir haben keine verödeten Landstriche wie in anderen Ländern. Der ganze Raum ist durchurbanisiert. Deshalb ist die Situation bei uns nicht vergleichbar mit dem Stadt-Land-Gegensatz in den USA.

Siedlung von oben
Biel/Bienne in northwestern Switzerland. Keystone / Jean-christophe Bott

Wenn sich Vollzeit-Telearbeit durchsetzt, kann die Arbeit doch auch von ärmeren Ländern aus erledigt werden?

Van Wezemael: Die Krise hat gezeigt, dass hybride Arbeit am produktivsten ist. Es wird sich eine Mischung aus Homeoffice und Büroanwesenheit durchsetzen. Für gewisse Regionen der Welt kann Telearbeit aber durchaus eine Chance sein, einen Arbeitsmarkt aufzubauen. Die geografischen Barrieren werden durch die Selbstverständlichkeit von Video-Telefonie abgebaut, das liegt auf der Hand.

Schneeberger: Für ein Hochlohnland wie die Schweiz kann das natürlich auch ein Risiko sein. Aber zurück zur Raumplanung: Auch ohne Krise hätte sich die Schweiz dezentral entwickelt. In den ländlichen Räumen ist mehr eingezont als in den Städten, also wird dort in den nächsten Jahren mehr gebaut. Gepaart mit Homeoffice werden aber die Auswirkungen weniger negativ sein.

Also kein Stau und keine verstopften S-Bahnen, obwohl mehr Leute im Grünen wohnen?

Schneeberger: Weniger Stau und weniger verstopfte S-Bahnen – im Idealfall (lacht).

Paul Schneeberger, geboren 1968, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Staatsrecht und promovierte mit einer Dissertation zur Rezeption des «Anschlusses» Österreichs an Deutschland 1938. Viele Jahre arbeitete er als Journalist für die Neue Zürcher Zeitung. 2017 schloss er an der ETH Zürich ein MAS-Nachdiplomstudium in Raumplanung ab. Von 2018 bis 2021 war er Leiter Verkehrspolitik beim Schweizerischen Städteverband.

Joris Van Wezemael, geboren 1973, studierte Wirtschafts- und Stadtgeografie, Wirtschaftssoziologie und Volkswirtschaft an der Universität Zürich. Er promovierte mit der Dissertation «Investieren im Bestand» zum Zusammenwirken von Immobilienwirtschaft und Siedlungsentwicklung. 2009 habilitierte er mit einer Arbeit zur Komplexitätswende in der Raumentwicklung. Er arbeitet als Privatdozent an der ETH Zürich sowie als Managing Partner der IVO Innenentwicklung AG.

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