Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Ich will nicht, dass jemand vor mir niederkniet»

Krawtschuk
"Unser Nationalismus ist, dass wir Ukrainer:innen sein wollen und nicht "ein Volk" mit den Russen. Davor braucht man keine Angst zu haben", sagt die ukrainische Parlamentarierin Jewgenija Krawtschuk. swissinfo.ch

Die ukrainische Abgeordnete Jewgenija Krawtschuk hält nichts vom Konzept der Kollektivschuld, will aber, dass die russische Bevölkerung den Krieg gegen die Ukraine als Fehler anerkennt. Ein Gespräch über das Kriegsgeschehen, die Zukunft der Ukraine und die Rolle der Schweiz. 

Jewgenija Krawtschuk ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion «Diener des Volkes» in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, Vorsitzende des Ausschusses Humanitäres und Informationspolitik sowie diplomierte Journalistin.

Diesen September verbrachte sie ein paar Tage in der Schweiz und traf sich mit Schweizer Parlamentarier:innen, um über den Krieg in der Ukraine zu sprechen, wir haben Sie in Bern getroffen. 

swissinfo.ch: Was ist der Zweck Ihres Besuchs in derSchweiz? 

Jewgenija Krawtschuk: Ich wurde ans Medienforum in Luzern eingeladen. Es ist dies aber nicht mein erster Besuch in der Schweiz. Dieses Jahr habe ich bereits am Weltwirtschaftsforum in Davos teilgenommen, an einer Diskussion über Frauen in der Politik. Danach kam die Einladung nach Luzern. Im Moment gibt es eine kurze Pause im ukrainischen Parlament, also konnte ich in die Schweiz kommen. 

Sie haben sich in Bern auch mit Vertreter:innen der Schweizer Politik getroffen. Welche Fragen wurden Ihnen gestellt – und was hat sie dabei überrascht? 

Zunächst muss ich den Schweizer Abgeordneten Respekt zollen. Sie haben uns vor Ort besucht, nachdem Russland die Invasion in der Ukraine gestartet hatte. Trotz des neutralen Status der Schweiz und der Tatsache, dass das Land kein Mitglied der EU oder der NATO ist, haben die Parlamentarier:innen grosses Interesse an der Ukraine bekundet. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen, da war unter anderem die Frage, was die Krim für uns bedeutet? 

Und was bedeutet Ihnen die Krim? 

Für mich ist die Krim ein Gebiet der Ukraine, genauso wie Donezk, Luhansk oder Charkiw. Der einzige Unterschied ist, dass es die einzige Region des Landes ist, die laut Verfassung einen autonomen Status besitzt. Es wurden von den Schweizer Parlamentarier:innen auch Fragen zum Winter gestellt.

Diesbezüglich ist die Taktik Russlands absolut klar: Unmittelbar nach dem erfolgreichen Gegenangriff in der Region Charkow wurden die ukrainischen Energiesystemanlagen mit Raketen beschossen, obwohl es sich um zivile Objekte handelt und ein Angriff auf solche gemäss der Genfer Konvention nicht erlaubt ist. 

Mehr

Auch die Schweiz ist inzwischen besorgt um ihre eigene Energiesicherheit. 

Die Europäer und die Schweizer haben völlig recht, wenn sie über den bevorstehenden schwierigen Winter diskutieren. Aber für uns lautet die Frage, ob es überhaupt eine Heizung geben wird, wenn nicht, könnten die Menschen bei unseren niedrigen Temperaturen in ihren Wohnungen erfrieren.

Wir bereiten also mobile Heizstationen, Generatoren, Brennholz und Öfen vor. Gleichzeitig sind Luftabwehrmittel von grösster Bedeutung, um die kritische zivile Infrastruktur zu schützen. 

Die ganze Welt beobachtet die Situation an der Front, die sich zuletzt dramatisch verändert hat. Können wir von einem Wendepunkt im Krieg sprechen? 

Ich denke schon. Wenn wir den Krieg in verschiedene Phasen unterteilen, dann war die erste Phase, dass wir die feindlichen Truppen im Norden der Ukraine aus den Regionen Kiew, Tschernihiw und Sumy zurückdrängten. Dann gab es eine sehr schwierige zweite Phase, im Mai und im Juni, als uns die sowjetische Munition für die 152er-Artillerie ausging und die militärische Hilfe der NATO-Länder noch nicht eingetroffen war oder zwar kam, aber nicht in ausreichender Menge. 

Und doch haben die Ukrainer all diese Städte – Isjum, Kupyansk, Liman – sehr lange verteidigen können. Inzwischen, das ist die dritte Phase, wurden sie in nur wenigen Tagen befreit. Ich denke, es war eine brillant durchgeführte Aktion. Im Süden bei der Stadt Cherson stossen wir auch vor. Wir erleiden schwere Verluste. Aber wir verteidigen unsere Heimat. 

Im Sommer fand in Lugano eine internationale Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine statt. Ist es, wenn der Krieg noch läuft, zu früh, um über den Wiederaufbau des Landes zu diskutieren? 

Es ist definitiv «nicht zu früh», solche Themen zu diskutieren. Es gibt Projekte, die heute schon umgesetzt werden müssen, wie z.B. die Versorgung von Menschen mit Unterkünften im Winter und der Wiederaufbau der Infrastruktur. Und es gibt Pläne für die Zukunft. Dabei verfolgen wir die Logik eines totalen Neustarts des Landes. Wir gehen von der Priorität des IT-Sektors aus, der eng mit dem Sicherheits- und Verteidigungssektor verbunden sein wird. 

Mehr
Spaziergang inmitten von Trümmern: Vor einem Einkaufszentrum in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Mehr

Der Wiederaufbau ist nur der Anfang

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Bei der grossen Ukraine-Konferenz in Lugano steht auch die Zukunft der Ukraine im Fokus. Der Staat hat dringend Reformen nötig.

Mehr Der Wiederaufbau ist nur der Anfang

Einige unserer Städte sind fast ausgelöscht, also geht es nicht um eine Renovierung, sondern um den Bau völlig neuer Gebäude, und zwar nicht nach dem Modell der Sowjetzeit. Das sollen moderne Einrichtungen mit hochmodernen Kommunikationssystemen werden. Aber natürlich kann es ohne die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes keinen vollständigen Wiederaufbau geben.  

Wladimir Putin hat in der Ukraine ungewollt einen Prozess der Nationenbildung eingeleitet. Kürzlich äusserten vier Professoren der Universität Bern ihre Sorge, über einen wachsenden ukrainischen Nationalismus. Was denken Sie darüber? 

Zunächst einmal sollten wir die Professoren der Universität Bern fragen, was sie unter Nationalismus verstehen. Wir haben Russland einfach gesagt: «Wir sind nicht ‹ein Volk›, wir sind keine Russen. Wir sind Ukrainer:innen und wir haben unseren eigenen Staat». Unser Präsident, Wolodimir Selenski, stammt aus einer russischsprachigen Familie. Nach den jüngsten Raketenangriffen auf die Stromnetze schrieb er in den sozialen Medien an die Verantwortlichen dieses kolonialen Krieges: «Wir werden ohne Licht sein, ohne Essen, aber ohne euch.» 

Wie sehr müssten die Menschen gegen alles Russische aufgebracht worden sein, sodass selbst diejenigen, die bis in jüngster Vergangenheit von «nachbarschaftlichen, freundschaftlichen Beziehungen» mit Russland geträumt haben, jetzt wollen, dass wir auf verschiedenen Planeten leben! Unser Nationalismus ist, dass wir Ukrainer:innen sein wollen und nicht «ein Volk» mit den Russen, und davor braucht man keine Angst zu haben. 

Mehr
Klimastreik von Greta Thunberg beim letzten WEF 2020

Mehr

Zeitenwende auch für das WEF

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Weltwirtschafts-Forum Davos: Sicht der Macher und globale Realität driften zunehmend auseinander. Ist das WEF als einflussreicher «Thinktank» am Ende?

Mehr Zeitenwende auch für das WEF

Einige Schweizer Politiker:innen sagen, dass wir mit Putin verhandeln sollten und dass Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine den Konflikt nur verlängern. Was würden sie einem solchen Menschen entgegnen? 

Stell Dir vor, du lebst friedlich in deinem Haus, in dein Haus wird eingebrochen, und man will dich töten. Was wirst du jetzt tun? Dein Zuhause verteidigen! Und du  bittest deine Nachbar:innen um Hilfe. Sie können helfen oder einfach wegschauen. So einfach ist das. 

Die Schweiz ist ein neutrales Land, aber auch sie hat sich den EU-Sanktionen angeschlossen. Sie kann und will keine Waffen liefern. Was könnte die Schweiz jetzt noch für die Ukraine tun? 

Wir sind dankbar, dass die Schweiz wie die EU Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Wir sind dankbar, dass unsere Kinder hier medizinisch versorgt werden. Es gibt mehrere Arten der humanitären Hilfe, die bereits Wirkung zeigen, aber sie müssen definitiv erweitert werden.

Unter anderem die Minenräumung. Die russischen Truppen haben in den Häusern, auf den Strassen, auf Feldern und in Wäldern Minen hinterlassen. Während der Aussaat wurden durch diese Minen viele Traktorfahrer getötet und Landwirtschaftsmaschinen zerstört.

Unser Katastrophenministerium braucht ebenfalls Unterstützung. Wenn eine Rakete einschlägt, steht alles in Flammen. Wir haben bereits erste Löschfahrzeuge aus der Schweiz erhalten. Die Nachfrage nach Schutzanlagen in Krankenhäusern und Schulen ist akut. Im August verabschiedete die Ukraine ein Gesetz, das besagt, dass der Bau eines Wohnhauses, einer Schule oder eines Spitals gleichzeitig mit dem Bau eines Schutzraumes erfolgen muss. Die Schweizer:innen haben auf diesem Gebiet viel Erfahrung.

Mehr

Mehr

Ein «Lugano»-Plan für den Wiederaufbau der Ukraine

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweiz lädt nach Lugano, um den Wiederaufbau der Ukraine zu planen. Was bringt das dem kriegsversehrten Land? Und was will die Schweiz erreichen?

Mehr Ein «Lugano»-Plan für den Wiederaufbau der Ukraine

Viele Blogger, insbesondere Oleksiy Arestovich mit seinem Millionenpublikum, sagen, man sollte die Ukraine in eine neue Schweiz verwandeln, in ein Land, in dem jeder Wehrpflichtige eine Waffe zu Hause hat. Halten sie es für realistisch, dass die Ukraine zum Prinzip Volksarmee übergeht? 

Unsere Armee ist bereits vollständig eine Armee des Volkes. Schon in den ersten Tagen des Krieges bildeten sich Warteschlangen vor den militärischen Melde- und Einberufungsbüros. Wir haben in kurzer Zeit eine Territoriale Verteidigungsarmee aufgebaut. Ich weiss selbst nicht, wie man mit Waffen umgeht, aber ich denke, ich werde es lernen müssen. Jetzt ist es in der Ukraine erlaubt, Glattrohrwaffen zu besitzen. Derzeit läuft auch eine Diskussion über den Besitz von Handfeuerwaffen. Aber die Basis unserer Verteidigung sollte in jedem Fall eine Berufsarmee bilden. 

Die Frage der «Abschaffung der russischen Kultur» wird heiss diskutiert. Es gab Gerüchte über die Schliessung des Bulgakow-Museums in Kiew. Die Frage ist nur, was die Ukraine mit der russischsprachigen Kultur und der russischen Sprache machen sollte. 

Ich kümmere mich um die Belange von Bibliotheken und Buchverlagen. Im April 2022 haben wir ein Online-Treffen mit Bibliothekarinnen und Bibliothekaren aus verschiedenen Städten organisiert. Es stellte sich heraus, dass die russischen Besatzer, nachdem sie ankamen, sofort Bücher in ukrainischer Sprache weggeworfen haben. Das ist ein echter Ethnozid, die Zerstörung der kulturellen Identität. Eine Bibliothekarin aus der Stadt Irpin erzählte uns, dass bei der Wiedereröffnung Ende April, direkt nach der Befreiung, Leute kamen und sie baten, alle russischen Bücher zu verstecken, mit den Worten «wir können sie nicht mehr sehen». 

Es muss zwischen der russischen und der russischsprachigen Kultur unterschieden werden. Wir haben viele Aktivisten, die auf Russisch schreiben, bloggen und sprechen. In der Ukraine haben viele Menschen russische Nachnamen. Ethnische Russen dienen in der Armee. Unsere Nation ist eine politische Willensnation, bei uns leben Ukrainer, Russen, Ungarn, Weissrussen, Polen, Krimtataren. Einige der russischen Politiker:innen und Journalist:innen leben in der Ukraine. Aber was die Sprache angeht, so ist Ukrainisch laut unserer Verfassung die Staatssprache. Und daran wird sich auch nichts ändern. 

Nach 1945 hat Deutschland sehr hart an dem gearbeitet, was man Kollektivschuld nennt. Ist Ihrer Meinung nach das russische Volk für das Geschehene verantwortlich? Gibt es eine pauschale Verantwortung? Willy Brandts Kniefall von Warschau ging in die Geschichte ein. 

Ich will nicht, dass jemand vor mir niederkniet. Mein einziger Wunsch ist es, dass die Russ:innen uns vergessen. Danach sollten sie einfach anerkennen, dass dieser Krieg ein Fehler war. Die meisten Menschen in Russland sagen das heute nicht. Im Gegenteil, sie freuen sich! Natürlich gibt es auch andere, aber sie sind entweder ins Ausland geflohen, weil sie Angst haben, ins Gefängnis zu kommen, oder sie schweigen. 

Ich denke, dass sich das russische Volk über kurz oder lang mit dem Ernst der Lage konfrontieren muss – raus aus Matrix, weg vom Propagandafernsehen. Kürzlich fragte ich die Frau des russischen Oppositionellen Wladimir Kara-Murza, was es brauchen würde, um Leute in Russland zu Protesten zu bewegen? Ihre Antwort war, Ihr müsst zuerst den Krieg gewinnen. Ohne einen Sieg der Ukraine werden sich die Menschen weder in Russland noch in Weissrussland auflehnen. Für uns steht aber erst einmal im Vordergrund, wie wir überleben, unser Land verteidigen und die Besatzer vertreiben. 

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft