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Im Herzen des Emmentals: Zwei Käser, zwei Geschichten, eine gemeinsame Leidenschaft

Zwei Männer bei der Käseherstellung
Yammen (rechts) ist bereits seit vier Jahren Käser, Andrea hat erst vor kurzem mit der Ausbildung begonnen. Sie verstehen sich auch ohne viel zu sprechen. tvsvizzera

Das Schweizer Emmental ist Heimat des gleichnamigen und weltberühmten Emmentaler-Käses. Hier teilen zwei junge Männer sehr unterschiedlicher Herkunft – aus Syrien und Italien – dieselbe Leidenschaft: Beide arbeiten in der Käseherstellung. Es ist eine Win-Win-Situation. Denn in der Branche fehlt es an qualifiziertem Personal. Den beiden Zuwanderern bietet sich umgekehrt die Chance, sich in der Schweiz ein neues Leben aufzubauen.

«Ich bin stolz darauf, Käser zu sein», sagt Yammen. Seine Augen leuchten vor Begeisterung. Neben ihm versetzt der junge Lehrling Andrea die Ziegenmilch mit Lab, einer Substanz aus dem Kuhmagen. Zuvor hat er die Temperatur der Milch geprüft. Wir sind in der Käserei GohlExterner Link im Emmental – im Herzen der Schweiz, wo der berühmte Hartkäse mit den grossen Löchern hergestellt wird.

Sanften Hügel und traditionelle Bauernhöfe prägen die Landschaft. Auf den Fensterbrettern stehen rote Geranien in Blumenkästen. Der Fluss Emme gurgelt durch den Talgrund und aus der Ferne ertönt das Bimmeln der Kuhglocken von grasenden Kühen. Es ist eine beschauliche Landschaft, von der Yammen bis vor einigen Jahren nicht einmal wusste, dass sie existiert.

Die Flucht aus Syrien

Yammen ist 28 Jahre alt und ein syrischer Flüchtling. In dieser ländlichen Idylle trauen wir uns fast nicht, ihn zu bitten, uns seine Geschichte zu erzählen – aus Angst, ihn an Bilder des Todes zu erinnern. «Ich bin vor sechs Jahren aus Hama geflohen, einer Stadt im Zentrum Syriens. Ich konnte nicht in einer Armee dienen, die mich gezwungen hätte, meine eigenen Landsleute zu töten», erzählt er. Zunächst erreichte er die Türkei, wo er sechs Monate lang auf den Nachzug seiner Familie wartete: auf seine Mutter, zwei Brüder und eine Schwester. Sein Vater war gestorben, als er fünf Jahre alt war.

Nachdem die Familie wieder vereint war, setzten sie ihre Reise gemeinsam fort. «Wir erreichten Griechenland mit einem Schlauchboot, wo wir dann aber ein Jahr lang festsassen», erinnert er sich. Im Jahr 2016 war ihnen aufgrund der geschlossenen Balkanroute eine Weiterreise nicht möglich.

Wie waren die Aufnahmezentren in Griechenland? Er betrachtet uns mit dem Blick einer Person, die einem ahnungslosen Kind erklären muss, was es bedeutet, als Flüchtling zu leben: «Es gab keine Aufnahmezentren für Asylbewerber. Wir lebten auf der Strasse – unter sehr prekären Bedingungen».

Im Jahr 2017 kam die unerwartete Wendung: Er und seine Familie konnten dank des Resettlement-ProgrammsExterner Link des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), an dem sich auch die Schweiz beteiligt, nach Zürich fliegen. Dort wurden sie dem Zentrum für Asylsuchende in Konolfingen zugewiesen und nach sechs Monaten nach Langnau im Emmental verlegt.

Yammen war damals 22 Jahre alt und hatte das Leben noch vor sich. «Ich habe mich unmittelbar daran gemacht, die Sprache vor Ort und einen Beruf zu erlernen». Er besuchte die Berufsschule in Langnau und absolvierte verschiedene Berufspraktika, etwa als Sanitärinstallateur oder Schreiner. Doch beim Beruf des MilchtechnologenExterner Link – wie der Beruf des Käsers heute genannt wird – war es dann Liebe auf den ersten Blick. «Ich will Käser werden», sagte er sich nach einer einwöchigen Schnupperlehre in der Käserei Gohl. Heute ist er stolz darauf, Emmentaler AOC herzustellen. Der Käse ist eines der Symbole der Schweiz, aber nun auch ein Symbol für den grossen Wendepunkt in seinem Leben.

Ein deutscher Musikwissenschaftler hat sich an ein schweizerisches Symbol gewagt: Er beschallt Emmentaler Käse mit Musik.

«Käser zu werden, war nicht geplant»

Während unseres Gesprächs ist der Käsebruch fertig geworden. Yammen prüft die Konsistenz und weist den Lehrling Andrea an, diesen mit einer Käseharfe zu schneiden. «Schnelligkeit ist ein schlechter Ratgeber, vor allem in dieser Tätigkeit», sagt Andrea. Obwohl er noch ein Neuling ist – er hat seine Lehre erst Anfang August begonnen – hat er bereits eines der wichtigsten Geheimnisse der Käseherstellung gelernt: Geduld. Während wir darauf warten, dass der Käsebruch etwas Molke verliert, nimmt er sich Zeit, uns seine Geschichte zu erzählen.

Andrea stammt aus Brescia in Norditalien und ist 27 Jahre alt. In die Schweiz kam er zunächst als Tourist über WorkawayExterner Link, eine Online-Plattform, die Gastfamilien und Freiwillige aus der ganzen Welt für Arbeitseinsätze und kulturellen Austausch zusammenbringt. Auf einem Bauernhof im Jura fand er freie Kost und Logis und bot im Gegenzug einige Stunden Arbeit pro Tag an. Er hatte genug von seinem Job als Schlosser und wollte sich eine Auszeit nehmen. «In der Schweiz habe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden», sagt Andrea, «ich mag die Ruhe sowie den engen Kontakt mit der Natur und den Tieren.»

Er kehrte nach Italien zurück. Doch schon bald erhielt er das Angebot, ein Stage auf einem Bauernhof im Emmental zu machen. Durch einen glücklichen Zufall landete er schliesslich in der Käserei Gohl. «Der Bauer, bei dem ich wohnte, ist Lieferant für diese Käserei», erzählt er. «Als er erfuhr, dass ich Käser werden wollte, fragte er die Geschäftsleitung, ob ich ein einwöchiges Praktikum machen könnte.»

Obwohl Andrea nur über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügte, bot ihm die Molkerei Gohl die Möglichkeit an, eine Ausbildung zum Milchtechnologen zu absolvieren. Nun arbeitet er vier Tage pro Woche und besucht an einem Tag die Berufsschule in Langnau. «Als ich Italien verliess, hatte ich nicht vor, Käser zu werden», gibt Andrea zu. «Aber nachdem ich diese Welt entdeckt habe, merkte ich, dass dieser Beruf mir eine solide Lebensperspektive bietet, sowohl hier als auch in Italien.»

KäseExterner Link ist das wichtigste Exportprodukt des Schweizer Landwirtschaftssektors. Von den jährlich produzierten rund 200’000 Tonnen wird ein Drittel ins Ausland verkauft, vor allem nach Deutschland, Frankreich, Italien und in die Vereinigten Staaten. Im Jahr 2022 überstiegen die Importe die Exporte. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022Externer Link sanken die Exporte beim Gruyère AOC um 9,8%, beim Emmentaler AOC um 15% und beim Appenzeller um 5,1%.

Martin Spahr, Marketing-Leiter der Dachorganisation der Schweizer Käsebranche Switzerland Cheese MarketingExterner Link, nennt einige Gründe für den Rückgang der Käseexporte: «Es darf nicht vergessen werden, dass während der Pandemie zwischen 2020 und 2021 der Käsekonsum, die Produktion und die Exporte ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht haben. Derzeit erleben wir eine schwierige Zeit mit dem Krieg in der Ukraine und der steigenden Inflation in Europa, insbesondere in den Hauptexportländern Deutschland, Frankreich, Italien und den USA.

Dies ist eine erste Erklärung für den Rückgang der Verkäufe im Ausland. Erschwerend kommt hinzu, dass sich der Schweizer Käse in den letzten Jahren im Ausland aufgrund des starken Frankens stark verteuert hat. Die aktuelle Krise betrifft alle Schweizer Produkte und somit auch den Käse.»

Motivation und Zielstrebigkeit

Es ist an der Zeit, sich der Herstellung des Ziegenkäses zu widmen. Yammen schüttet den Käsebruch auf einen Stahltisch und füllt ihn in kleine Behälter, um den Käse zu formen. «Für diese Arbeit braucht man Erfahrung», erklärt er. «Das Gewicht darf nicht unter 130 Gramm liegen, sonst können wir sie nicht verkaufen.» Obwohl er erst seit vier Jahren in Gohls Käserei arbeitet, reicht bei Yammen ein kurzer Blick, um zu grosse oder zu kleine Käslein zu erkennen. Er nimmt einen Teil des Käsebruchs aus einer Form, um ihn in eine andere zu geben. In der Zwischenzeit reinigt Andrea die weissen Plastikbehälter, in denen die Ziegenmilch transportiert wurde. Sie erinnern an Grubenwagen.

Andrea und Yammen arbeiten harmonisch zusammen, auch wenn sie kaum miteinander sprechen. Sie sind ein eingespieltes Paar. Käserei-Direktor Hansueli Neuenschwander erkannte das Potenzial der beiden jungen Männer. «In der Milch- und Käsereiwirtschaft herrscht seit einiger Zeit ein Mangel an qualifiziertem Personal», sagt Neuenschwander. Diese Einschätzung wird vom Schweizerischen Milchwirtschaftlichen VereinsExterner Link (SMV) geteilt. «Wie in fast allen Branchen wird der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren eine unserer grössten Herausforderungen sein», erklärt SMV-Kommunikationschef Roland Tanner.

Wie andere Wirtschaftszweige hat auch die Milchwirtschaft seit Jahren mit einem Mangel an qualifiziertem Personal zu kämpfen. Laut Roland Tanner, Kommunikationschef des Schweizerischen Milchwirtschaftlichen Vereins SMV, sind aufgrund des Strukturwandels in der Branche in den letzten 25 Jahren rund die Hälfte der Käsereien verschwunden (siehe auch den Artikel Schweizer Käse-Tradition unter Druck).

Die Käserei Gohl liegt etwa zehn Autominuten von Langnau entfernt, dem Hauptort des Emmentals. Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist kompliziert. Der Betriebsleiter ist sich bewusst, dass diejenigen, die sich für eine Lehre entscheiden, dies nicht aus Bequemlichkeit tun. «Es braucht eine gute Portion Motivation und Zielstrebigkeit», sagt Neuenschwander. «Das sind zwei Eigenschaften, mit denen sich auch Sprachbarrieren überwinden lassen.»

Yammen ist der Beweis für diese These: 2021 hat er seine Lehre zum Milchtechnologen erfolgreich abgeschlossen. Seit vier Jahren arbeitet er nun als Angestellter in der Käserei Gohl und kann sich nicht vorstellen, etwas anderes zu machen. «Ich habe hier ein gutes Leben. Ich habe einen Job und eine Wohnung.  Das reicht mir», sagt Yammen. Andrea hingegen muss sich erst noch einleben. Alles ist für ihn neu: Das frühe Aufstehen, die Sprache, die Arbeit. «Im Moment gefällt mir alles, auch wenn es nicht immer einfach ist», sagt er. «Doch zu sehen, dass Yammen es geschafft hat, macht mich zuversichtlich: Ich möchte ebenfalls Käser werden.»

Die Käserei GohlExterner Link kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Gegründet wurde sie als Genossenschaft 1830 für die Produktion von Emmentaler. Inzwischen wird sie in der vierten Generation von der Familie Guggisberg geführt. Neben dem alten Gebäude wurde 2016 ein neuer Betrieb eröffnet, in dem Hart-, Halbhart- und Weichkäse hergestellt wird. Neben dem Emmentaler AOC werden seit rund 40 Jahren auch Spezialitäten aus Ziegen- und Schafmilch produziert.

Die Käserei verarbeitet jährlich fast 7,5 Millionen Kilogramm Kuhmilch, die von rund 80 Milchbetrieben geliefert werden. 21 Ziegenhalter:innen produzieren rund 450’000 Kilogramm Ziegenmilch, acht Schafhalter:innen rund 230’000 Kilo Schafsmilch. Im Jahr 2022 ging die Nachfrage nach Emmentaler AOC im Inland und Ausland zurück, was auch die Käserei Gohl zu spüren bekam. Sie musste zwei Mitarbeitende entlassen und einen Mitarbeitenden versetzen. Derzeit sind 17 Personen in der Käserei beschäftigt, davon 10 in Teilzeit.

Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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Gastgeber/Gastgeberin Sara Ibrahim

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