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Impfwunder Portugal – Schlusslicht Schweiz

Plakat einer Impfkampagne in Portugal
Kein anderes Land hat mehr geimpfte Personen als Portugal, die Gründe sind vielschichtig: die Kinderlähmung und ein ehemaliger U-Boot-Kommandant dürften eine Rolle spielen. AFP

Nirgends sind mehr Menschen gegen das Coronavirus geimpft als in Portugal. 98 Prozent aller über 25-Jährigen haben bereits beide Dosen erhalten. Die Schweiz gehört mit knapp 72 Prozent hingegen zu den Schlusslichtern in Europa. Was machen die Portugiesinnen und Portugiesen anders?

Gerade erst hat die Schweizer Regierung eine neue Impfoffensive lanciert, um der Covid-19-Impfkampagne doch noch einmal Schub zu verleihen. In Portugal hingegen gab die zuständige Task Force bereits Ende September ihre Auflösung bekannt. Sie hatte ihre Mission erfüllt: Gerade einmal zwei Prozent aller Portugiesinnen und Portugiesen über 25 Jahre sind derzeit noch nicht vollständig geimpft, selbst bei den 12- bis 24-Jährigen liegt die Impfquote bei mehr als 85 Prozent.

Die Schweiz kommt bei den über 25-Jährigen auf eine Gesamtrate von knapp 72 Prozent (Stand Anfang November) und gehört zu den Schlusslichtern in Europa. Warum ist das so?

Die tiefe Quote in der Schweiz, sagt die Sozial- und Gesundheitspsychologin Urte Scholz, lasse sich nicht in erster Linie mit den erklärten Gegnerinnen und Gegnern der Covid-19-Impfung erklären. Zwar sind diese in der Schweiz tatsächlich zahlreicher als in Portugal, wo Impfskeptische praktisch inexistent sind – doch machen sie laut Scholz nicht den Grossteil der Ungeimpften aus. «Keinesfalls sollte man Ungeimpfte einfach als Verschwörungstheoretiker abstempeln», sagt die Professorin der Universität Zürich.

Ausschlaggebend seien vielmehr die Zögernden: Als die Impfrate auf etwa 50 Prozent gestiegen war und erst einmal alle geimpft waren, die dies von Anfang an gewollt hatten, sei die Kurve rasch abgeflacht. Scholz bilanziert: «Die Zweifel und Bedenken vieler Menschen wurden nicht rasch genug aufgenommen.»

Vertrauen und schmerzhafte Erinnerungen

Dabei war die Zurückhaltung ganz am Anfang, als noch kein Impfstoff gegen das Coronavirus verfügbar war, auch in Portugal gross – grösser sogar als in anderen Ländern. Das stellte der Gesundheitsökonom Pedro Pita Barros fest, der im Rahmen des länderübergreifenden European Covid Survey (ECOS) seit April 2020 regelmässig die Sorgen, Einstellungen und die Impfbereitschaft der Portugiesinnen und Portugiesen in der Corona-Pandemie erhebt.

Zwar sei die Zahl der Unschlüssigen in allen untersuchten Ländern vor der Markteinführung des Impfstoffes höher gewesen als danach. «Doch nirgends fiel die Kurve so dramatisch ab wie in Portugal», sagt der Professor der Nova School of Business & Economics in Lissabon. Die Bedenken schienen sich quasi über Nacht in Luft aufgelöst zu haben.

Anteil vollständig geimpfter Personen an der Gesamtbevölkerung, Stand Mitte Oktober 2021. swissinfo.ch

«Die Portugiesinnen und Portugiesen haben sehr grosses Vertrauen in das staatliche Gesundheitssystem», sagt die Anthropologin Cristiana Bastos, zu deren Fachgebieten öffentliche Gesundheit und Epidemien gehören. «Das gilt auch für die nationalen Impfkommissionen und deren Empfehlungen.» Zusätzlich zur ständigen Impfkommission des Landes rief die portugiesische Generaldirektion für Gesundheit vor einem Jahr eine weitere, ausschliesslich mit Covid-19 betraute Instanz ins Leben.

Als für die verfügbaren Impfstoffe grünes Licht gegeben hatte, gab es für die portugiesische Bevölkerung kaum mehr einen Grund, sich nicht so schnell wie möglich impfen zu lassen. Natürlich weise das öffentliche System auch Mängel auf, räumt die Wissenschaftlerin des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon ein, etwa wenn es um die Wartezeiten bei planbaren Eingriffen gehe. «Doch gerade die primäre Gesundheitsversorgung funktioniert sehr gut.»

Das hat auch viel damit zu tun, wie diese Versorgung in Portugal organisiert ist: Jede und jeder ist dort einem der zahlreichen, meist nah gelegenen Gesundheitszentren im Land zugewiesen, den sogenannten Centros de Saúde, und dort wiederum fest einer Ärztin sowie einer Pflegefachperson.

Sie sind erste Anlaufstelle, wenn sich eine Grippe abzeichnet, die Menstruation ausbleibt – oder eben Impfungen anstehen. «Diese personalisierte Betreuung über lange Jahre schafft viel Vertrauen und fängt Unsicherheiten früh auf», sagt der Mediziner Válter Fonseca, der der nationalen Covid-19-Impfkommission vorsteht.

Die Haltung gegenüber Impfungen ist in Portugal grundsätzlich sehr wohlwollend. «Das nationale Impfprogramm ist eine Erfolgsgeschichte», sagt Fonseca. So gehört die Quote auch bei etablierten Impfungen wie etwa gegen Masern, Mumps oder Kinderlähmung stets zu den höchsten in Europa, obwohl Portugal keine Impfpflicht kennt. «Die Gesellschaft sieht Impfungen fast ausnahmslos als etwas Nützliches und Notwendiges an», bestätigen auch die Forschenden Cristiana Bastos und Pedro Pita Barros.

Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Erinnerung an die dramatischen Folgen von Kinderlähmung oder Masern in Portugal vielen Menschen noch deutlich präsenter ist als in der Schweiz. Während die Zahl der Poliomyelitis-Fälle hierzulande schon Mitte der Fünfzigerjahre rasant abnahm,  machte die Krankheit den Portugiesinnen und Portugiesen noch bis in die Siebzigerjahre grosse Angst, wie Pita Barros sagt.

Der Erfolg der portugiesischen Impfkampagne ist aber auch ganz wesentlich einer effizienten Planung und Logistik zu verdanken. Nach einem wenig geglückten Start der Task Force unter der Leitung des Gesundheitsexperten Francisco Ramos übernahm im Februar der Vizeadmiral Henrique Gouveia e Melo das Ruder. «Seine klare und direkte Art führte die Kampagne rasch in geordnete Bahnen», sagt der Gesundheitsökonom Pita Barros über den einstigen U-Boot-Kommandanten.

Die Bevölkerung wurde nach Altersgruppen gestaffelt zur Impfung aufgerufen, und wer nicht selbst aktiv einen Termin anforderte, erhielt wenig später automatisch eine SMS mit einem Datumsvorschlag. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der lange Jahre Teil der sozialistischen Regierung Portugals war, habe der Marinemann wohl auch weniger auf politische Sensibilitäten achten müssen, so Pita Barros.

Zurückhaltung, schwerfällige Strukturen

«So viele Vorteile der Föderalismus in gewöhnlichen Zeiten auch mit sich bringt, in einer Krise funktioniert er einfach zu langsam», sagt Suzanne Suggs über die Situation in der Schweiz. Die Expertin für Kommunikation und öffentliche Gesundheit gehört zur Swiss National COVID-19 Science Task Force, die die hiesigen Behörden in der Pandemie berät. «Entscheide müssten da auch einmal schnell und zentral gefällt werden können.» Doch auch in den vergangenen Monaten sei der Bund stets sehr darauf bedacht gewesen, den Kantonen nicht auf die Füsse zu treten.

Die politische Struktur ist für Suggs aber nicht die Einzige Erklärung, weshalb die Schweiz anderen Ländern hinterherhinkt mit ihrer Impfquote. «Die Menschen mussten sich hier viel zu oft selbst aktiv um Informationen bemühen, wenn es um die Covid-19-Impfung ging. Anstatt dass solches Wissen möglichst direkt zu den Leuten gebraucht worden wäre», kritisiert die Professorin der Universität Lugano. «Es ist erstaunlich, wie viele Schweizerinnen und Schweizer, gerade auch junge, ungenügend informiert sind.»

Niederschwelligkeit sei in einer solchen Situation matchentscheidend: Sie bedeutet nicht nur unkomplizierte Anmeldeverfahren, gut erreichbare Lokalitäten und günstige Terminfenster – sondern eben auch, dass Zweifel und Fragen der Bevölkerung frühzeitig aufgenommen werden und mit Antworten aktiv auf die Bevölkerung zugegangen wird. «Viele Fake News erreichen die Bevölkerung leichter als seriöses Wissen zur Impfung», sagt auch die Gesundheitspsychologin Urte Scholz.

Dass man mit unschlüssigen Menschen ins Gespräch kommt und ihre Bedenken etwa am Telefon zu klären sucht – oder im eigenen Quartier von Tür zu Tür geht und mit der Nachbarschaft redet, sind denn auch besonders erfolgreiche Kommunikationsstrategien, wie die Amerikanerin aus Ländern wie den USA oder Israel weiss. «Doch in der Schweiz scheint man Hemmungen davor zu haben, als jemand wahrgenommen zu werden, der ausdrücklich für die Covid-19-Impfung wirbt.»

Das gelte bis zu einem gewissen Grad auch für die Bundesebene, sagt Suggs. Die Freiwilligkeit der Impfung habe in den vergangenen Monaten offenbar gar nicht oft genug betont werden können. «Dass die Impfung auch eine Frage gesellschaftlicher Verantwortung und Solidarität ist, wurde längst nicht so deutlich hervorgehoben.» Manch offizielle Botschaft zur Impfung habe denn auch eher wie eine reine Verfügbarkeitsankündigung geklungen.

Der Sozial- und Gesundheitspsychologin Scholz fehlte es in der hiesigen Impfkampagne aber auch an klaren Vorbildern und Vermittlern. Das hätten etwa Spieler der Fussballnationalmannschaft sein können (ein Versuch, der kläglich scheiterte), aber auch der Vorsitzende des Kulturvereins, der Dorfpfarrer oder die Trainerin des Unihockeyteams.

Gerade für diejenigen Menschen, die sich nicht unbedingt aus Zeitung oder Tagesschau über den Verlauf der Pandemie informierten, hätten sie eine wichtige Funktion übernehmen können, ist Scholz überzeugt. «Elvis hat ja einst fast im Alleingang den Ruf der Polioimpfung wiederhergestellt, indem er sich medienwirksam vor der Kamera impfen liess.»

Näher ran an die Unschlüssigen

Sicher werde die Impfoffensive des Bundes nun noch einmal Bewegung in die Sache bringen, glauben die beiden Wissenschaftlerinnen. Sowohl mobile Impfstellen als auch persönliche oder telefonische Beratungen seien der richtige Weg, um die Hürden für Unschlüssige weiter zu senken. Für mehr Impfungen könnte laut Scholz ausserdem das Vakzin von Johnson&Johnson sorgen, das seit einigen Wochen neu auch in der Schweiz zugelassen ist.

«Das fehlende Vertrauen in die bisherigen mRNA-Vakzine ist für viele Menschen der Hauptgrund für ihr Zögern.» Der neue Impfstoff basiere nicht nur auf einer anderen Grundlage, sondern müsse auch nur einmal verabreicht werden. Nicht zuletzt dürften auch die Zertifikatspflicht und die Kostenpflicht der Coronatests Wirkung zeigen. «Zwar wären positive Anreize gesellschaftlich gesehen verträglicher,», sagt Scholz. «Doch mehr Menschen zur Impfung bewegen werden die jüngsten Massnahmen dennoch.»

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