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In Mexiko fühlt sich Rentnerin Edith Müller sicher – dank der AHV

Edith Müller in Mexiko Stadt
Edith Müller auf ihrem Balkon mit Blick über Mexiko-Stadt. swissinfo.ch

Seit bald 40 Jahren lebt Edith Müller, 67, in Mexiko Stadt. Zurück in die Schweiz wollte sie nie. Zur kompletten Abnablung kam es aber nicht: Der Schweizer Altersvorsorge blieb sie treu.

Die Stadt liegt Edith Müller zu Füssen, wenn sie auf ihrem Balkon im achten Stock Kaffee trinkt. Das Häusermeer von Mexiko-Stadt ist kein Vergleich zu Männedorf am Zürichsee, wo sie in den 1950er-Jahren aufgewachsen ist.

21 Millionen Einwohner. Diese nie endende Stadt ist ihr längst Normalität. Sie hat nun mehr Jahre hier verbracht, als in der Schweiz.

Weit zurück liegt die Aussicht auf Zürichsee und Zimmerberg, ersetzt durch den Torre Latinoamericano und verschneite Vulkanspitzen in unscharfer Ferne. Auf dem Tisch in der Wohnung ragt ein Schweizer Fähnchen aus einem mexikanisch bemalten Blumentopf.

Alter? Was für eine Frage!

Fast täglich muss die 67-Jährige einen Hindernislauf auf sich nehmen, vom Supermarkt auf der anderen Strassenseite über drei breite Fahrspuren zu ihrem Eingang. Drei Fahrspuren, auf denen sich nach mexikanischer Manier so viele Autos nebeneinander drängen wie irgendwie möglich.

In einer einzigen grünen Phase ist das nicht zu schaffen: Ein Satz zum kniehohen Trennblock der Fahrbahnen, um auf dem schmalen Mäuerchen zu balancieren, bis die nächste grüne Phase startet.

Ist das herausfordernd im Alter? Überhaupt: Wie ist das Altern in Mexiko denn so? Edith Müller reagiert überrascht. «Warum dieses Wort?» Im Alter sei sie noch nicht angekommen, sagt sie. Die kurzen blondierten Haare in Form geföhnt, über den Augen ein türkisfarbener Lidstrich, die Lippen bemalt. Nur wenn sie schmunzelt, zeigt sich in den Fältchen um ihre Augen, dass die mexikanische Sonne schon ein paar Jahrzehnte ihre Begleiterin ist.

Das Smartphone ist stets griffbereit, um Treffen mit Freunden zu vereinbaren im hippen Quartier «La Condesa», wo sie wohnt, wo auch die besten Restaurants der Stadt versammelt sind.

Gelassener geworden

Edith Müller isst oft auswärts. An Meldungen wie «Ich bin verspätet» oder «Fangt ohne mich an» hat sie sich längst gewöhnt. «Ich musste hier lernen, gelassener zu werden», sagt die Auslandschweizerin. «Kein Drama.»

Auch die Kriminalität, die über die letzten 40 Jahre überall zunahm, macht ihr wenig Sorge. Wer in mexikanischen Verhältnissen altert, setzt solche Bedrohungen offenbar auf die Risikoliste wie andere Glatteis im Winter: Das gibt es, aber verrückt werden deswegen, das lohnt sich nicht.

Kindheitserinnerungen am Kühlschrank: Edith Müller 1959 mit ihrer Mutter vor dem Elternhaus in Männedorf. swissinfo.ch

«Wenns passiert, dann passierts»

«Als ich jünger war, wurde mir die Handtasche weggerissen. Und eingebrochen wurde bei uns auch einmal.» Seither ist ihr jahrelang nichts mehr passiert. Statistisch betrachtet heisst dies, dass sie bald wieder einmal Opfer von Raub oder Überfall werden könnte. «Wenns passiert, dann passierts eben», sagt sie.

Der Sog der weiten Welt war stets stärker als Bedenken. Sie machte Sprachaufenthalte in Frankreich, Italien und England, fand sich schliesslich in San Diego als Au Pair wieder. Bis sie eines Abends in das angrenzende Tijuana in den Ausgang ging – «in den 80ern war es dort noch völlig ungefährlich» – und eine Kultur entdeckte, die sie anzog.

Schon 24 Stunden nach ihrer Ankunft 1985 zeigte ihr Mexiko-Stadt, was in ihr steckt. Es schüttelte so kräftig, dass die Häuser massenweise einstürzten. Erst später habe sie realisiert, dass sie Mexikos verheerendstes Erdbeben des letzten Jahrhunderts miterlebt hatte, sagt Edith Müller.

Mit 61 wurde sie 2017 vom jüngsten grösseren Beben durchgeschüttelt. Damals kollabierte das Gebäude, in dem eine Freundin eine Eigentumswohnung hatte. Passiert so etwas in Mexiko, ist der Grossteil des investierten Geldes futsch.

Der Vater erinnerte an die AHV

Bei ihrer Ankunft war sie Ende 20. «Damals dachte ich noch überhaupt nicht an Vorkehrungen für später. Ich wollte die Welt sehen und genug zum Leben verdienen.» Weiter denke man in diesem Alter nicht.

Es war ihr Vater, der ihr vor der Abreise ins Ausland eingebläut hat, sie solle unbedingt die jährlichen AHV-Beiträge einzahlen. «Dafür bin ich ihm dankbar», sagt sie heute. «Hätte er nicht darauf bestanden, wäre ich wohl erst manche Jahre später auf die Idee gekommen.»

Als Sprachlehrerin für Englisch und Deutsch arbeitete die Schweizerin selbstständig. Ihr Pensionierten-Fonds, den es damals in Mexiko noch gab, wurde darum nicht automatisch gefüllt. Doch im jungen Alter sei sie noch zu sorglos gewesen, als dass sie auf die Idee gekommen sei, nebst der AHV auch in Mexiko fürs Alter vorzusorgen.

Gewissenhafter Ehegatte

Das änderte sich, als sie 1991 einen mexikanischen Buchhalter heiratete. Ernesto belehrte seine Frau, dass sich zu wenig Vorsorge im Alter rächen würde. «Also fing ich an, meinen mexikanischen Pensionsfonds zu füttern.»

Edith Müller 2022 mit Ehemann Ernesto (rechts), Sohn Neto und dessen Freundin. swissinfo.ch

Sie unterrichtet noch immer Kinder und Erwachsene, «weil es eine schöne Beschäftigung ist – und mir ein Supplement an Geld einbringt». Nur von der AHV zu leben, wäre zwar möglich. Edith Müller kennt eine Schweizerin, die mit ihren 2000 Franken monatlich gut lebt.

Doch ein Extrapolster ist von Vorteil, in Mexiko noch viel mehr als in der Schweiz. Regelmässig hört man hier im Gespräch mit Freunden Geschichteten über böse finanzielle Überraschungen. Die Gründe sind zahlreich.

Gut möglich, dass Edith Müller mit fortschreitendem Alter mehr Hilfe benötigt – und dafür mehr Geld ausgeben muss. Sie lebt heute allein mit ihren beiden Katzen. Im engen sozialen Gefüge Mexikos wohnen ältere Menschen oft bei ihren Kindern.

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«Doch meine heutige Freiheit möchte ich nicht aufzugeben», sagt sie. Bezahlte Hilfe ist zwar günstiger als in der Schweiz, ein Budgetposten ist sie dennoch. Altersheime sind selten in Mexiko, staatlich unterstützte sehr selten.

Grosser Freundeskreis

Der wohl grösste mexikanische Vorzug – gerade im Alter – sei der zwischenmenschliche Umgang im Familien- und Freundeskreis. «Freunde melden sich regelmässig und kommen spontan vorbei», sagt Edith Müller. So wisse man nie, wie der Tag ende.

In Mexiko gehen Gäste selten vor Mitternacht. Schon gar nicht, wenn auf der Dachterrasse der Schweizer Einwanderin Feststimmung herrscht und man die Millionenstadt bei Nacht bewundern kann.

Kindheitserinnerungen am Kühlschrank: Edith Müller (2. von rechts) mit ihren Geschwistern 1964. swissinfo.ch

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