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Die Maschine und die Moral

«Die digitale Revolution wirkt wie ein Tsunami auf die Schweizer Industrie»

Intelligente Maschinen, die aus der Ferne gesteuert und repariert werden können: Das bietet Bobst an, ein Waadtländer Unternehmen, das sich auf Anlagen für Verpackungs- und Etikettenhersteller spezialisiert hat. © Keystone / Jean-christophe Bott

Die Schweiz ist bereit, auf der digitalen Welle, die über den industriellen Bereich hereinbricht, erfolgreich zu surfen. Aber Vorsicht, Ertrinken ist nicht ausgeschlossen, warnt Xavier Comtesse in einem Buch, das am 12. Juni veröffentlicht wird.

Ein geborener Kommunikator, ein visionärer Allrounder, ein Provokateur, ein Extremist der Innovation: Es mangelt nicht an Begriffen, um Xavier Comtesse zu beschreiben. Der ehemalige Schweizer Wissenschaftskonsul in Boston und ehemalige Direktor des liberalen Ideenlabors Avenir SuisseExterner Link in der Westschweiz (siehe Kasten) veröffentlicht ein Buch mit rund zehn Co-Autoren, unter ihnen Elmar Mock, Miterfinder von Swatch. Das Werk soll die Pioniere der Industrie 4.0 in der Schweiz («Industrie 4.0 – The ShapersExterner Link«) hervorheben. Interview mit einem Technikfreak.

Mit rund zehn Co-Autoren stellt Xavier Comtesse zwanzig Schweizer Unternehmen vor, die Pioniere in der Industrie 4.0 sind. swissinfo.ch

swissinfo.ch: Lassen Sie uns zunächst die Terminologie festlegen. Was genau verstehen Sie unter Industrie 4.0?

Xavier Comtesse: Es ist sehr einfach. Es geht um die digitale Revolution, die in der Industrie angewendet wird. Big Data, künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, 3D-Drucker: All diese Innovationen, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind, verändern die Produktion von Maschinen, Objekten und Konsumgütern grundlegend.

Auch wenn es in der Öffentlichkeit etwas unbemerkt bleibt, wirkt diese vierte industrielle Revolution wie ein Tsunami für die gesamte Schweizer Industrie.

Sie ist ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger als die drei vorangegangenen Revolutionen, nämlich die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert, der Werkzeugmaschine am Ende des 19. Jahrhunderts und der computergesteuerten Werkzeugmaschine im 20. Jahrhundert.

swissinfo.ch: Können Sie uns einige konkrete Beispiele nennen?

X.C.: Es gibt Tausende. Der Waadtländer Verpackungsspezialist Bobst ist zum Beispiel in der Lage, die von ihm weltweit verkauften Maschinen vorausschauend zu warten. Dank der in die Maschine integrierten Sensoren weiss der Kunde genau, welches Teil er zu welchem Zeitpunkt wechseln soll. Die Beratung erfolgt aus der Ferne, was die Beziehung zwischen dem Werk und seinem Kunden völlig verändert. Bald werden wir in der Lage sein, Maschinen komplett aus der Ferne zu reparieren.

Das «machine learning» liefert auch spektakuläre Ergebnisse. Die von der jurassischen Firma Willemin-Macodel hergestellten Werkzeugmaschinen können sich selbst justieren, wenn sie feststellen, dass die von ihnen hergestellten Teile Mängel aufweisen.

swissinfo.ch: Unter den «4.0-Revolutionären», die Sie in Ihrem Buch hervorheben, gibt es nur wenige Startups, aber vor allem KMU und grosse Industrieunternehmen. Warum?

X.C.: Entgegen der weitverbreiteten Meinung schaffen KMU und grosse Industrieunternehmen mehr Arbeitsplätze und Patente als Startups. Sie sind aufmerksamer gegenüber ihren Kunden und wissen, wie sie sich schnell auf deren Bedürfnisse einstellen können.

Heute muss man sagen, dass die grossen Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH), aus denen viele Startups hervorgehen, den Zug dieser vierten industriellen Revolution verpasst haben.

«Die grossen Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH), aus denen viele Startups hervorgehen, haben den Zug dieser vierten industriellen Revolution verpasst.»

Xavier Comtesse

Die Ingenieure der Firma Willemin-Macodel, die das neue maschinelle Lernsystem «machine learning» entwickelten, hatten ihr Wissen von Delsberg aus durch die Teilnahme an den Online-Kursen der Stanford University (MOOC) erworben. Die ETH Lausanne bietet nämlich keine Ausbildung in künstlicher Intelligenz an.

swissinfo.ch: Machen Sie nicht einen künstlichen Wirbel um diesen Slogan der «Industrie 4.0», angesichts der Tatsache, dass viele Unternehmen den digitalen Wandel längst begonnen haben?

X.C.: Dieses Argument höre ich oft von Unternehmern, die sich weigern, sich für die laufenden Veränderungen zu interessieren. Das Phänomen ist besonders auffällig in der Welt der Uhrenindustrie. Aber diese Rückständigen vergessen, dass wir vor dem Erscheinen des erstem iPhones im Jahr 2007 beispielsweise nicht in der Lage waren, Benutzerdaten in grossem Umfang zu sammeln und zu analysieren, wie es Tag Heuer mit seiner «intelligenten Uhr» tut. Die Gewohnheiten und Motivationen seiner Kunden zu kennen, ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil in der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts.

swissinfo.ch: Stellt diese Revolution, die Sie beschreiben, eine Chance oder ein Risiko für die Schweizer Industrie dar?

X.C.: Beides. Unternehmen, die sich nicht anpassen, sind bald zum Tod verurteilt. Für diejenigen, die ihre Chance nutzen können, gibt es jedoch viele Möglichkeiten.

Xavier Comtesse kämpft unermüdlich darum, die Menschen von den Vorteilen der technologischen Innovation zu überzeugen. Keystone / Martial Trezzini

Mit diesem digitalen Wandel ist zum ersten Mal die Hoffnung auf eine Verlagerung von Industrieaktivitäten in den Westen wieder geweckt worden.

Die fast vollständige Automatisierung der Produktion, die durch diese neuen Werkzeuge ermöglicht wurde, erlaubt es unseren Volkswirtschaften, gegenüber den Schwellenländern wieder wettbewerbsfähig zu sein.

swissinfo.ch: Diese Automatisierung wird jedoch viele Mitarbeiter im Regen stehen lassen. Gute Nachrichten also für Maschinen, aber weniger für die Menschen…

X.C.: Nein, im Gegenteil: Wir werden die Entstehung neuer Arbeitsplätze erleben, die kreativer und weniger beängstigend sind. Die Berufe verschieben sich, die traditionelle Grenze zwischen Industrie und Dienstleistungen verschwindet.

Viele Arbeitsplätze werden in den Bereichen Coaching, persönliche Assistenz, Gesundheit, etc. entstehen. Die Menschen werden immer mehr miteinander anstatt mit Maschinen arbeiten. Wir kommen dem Garten Eden irgendwie näher.

Illustration: Artificial Intelligence, Künstliche Intelligenz

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swissinfo.ch: Sie sind sehr optimistisch. Aber hat die Schweiz wirklich die gleich langen Spiesse, um zum Beispiel mit den chinesischen und amerikanischen Riesen zu konkurrieren?

X.C.: Es ist immer einfacher, die «Hardware» zu beherrschen und dann die «Software» zu entwickeln, d.h. das industrielle Know-how zu besitzen und dann Algorithmen und Big Data zu integrieren. Die Schweiz mit ihrer grossen Tradition in der Spitzen-Industrie ist im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA, die den «Software»-Ansatz favorisiert haben, diesbezüglich sehr gut positioniert.

swissinfo.ch: Haben die schweizerischen Behörden die Herausforderungen erkannt, die Sie beschreiben?

X.C.: Nein, es gibt viel Unwissen in der politischen Welt. Kein Bundesrat ist in der Lage, die Veränderungen in der Branche zu verstehen. Mein Buch hat auch eine pädagogische Funktion. Ich möchte anhand konkreter Beispiele zeigen, wie sich diese Veränderungen auf die Unternehmen auswirken. Ich werde jedem Bundesrat ein Exemplar meines Buches schicken.

Xavier Comtesse, geboren 1949, ist Wissenschaftler, Diplomat, Gründer von Startups und Think Tanks. Der studierte Mathematiker und promovierte Informatiker an der Universität Genf gründete in den 1970er-Jahren drei Start-ups in Genf, darunter die Éditions Zoé.Externer Link

Im Jahr 1992 wurde er in Bern zum leitenden Beamten des Staatssekretärs für Wissenschaft, Forschung und Bildung ernannt. 1995 wurde er als wissenschaftlicher Diplomat an die Schweizer Botschaft in Washington geschickt. 2000 wurde er der erste Schweizer Wissenschaftskonsul in Boston, wo er das SwissnexExterner Link-Konzept entwickelte.

2002 wurde er zum Direktor des Think Tank Avenir Suisse ernannt, wo er sich hauptsächlich mit Innovationsfragen beschäftigt. 2012 gründete er im Auftrag der Industrie- und Handelskammer Neuenburg das Swiss Creative CenterExterner Link, das der neuen industriellen Revolution gewidmet ist. Zwei Jahre später gründete er zusammen mit Elmar Mock «Watch Thinking», eine Denkfabrik für die Uhrenindustrie. 2015 wurde die Sammlung «Health@Large» mit einem neuen Think Tank für die digitale Gesundheit ergänzt.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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