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Vor politischer Beteiligung: Chancengleichheit im Alltag

Thomas Kessler, ehemaliger Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt. zvg

Über die grundsätzliche Bedeutung der politischen Beteiligung hinaus unterstreicht Thomas Kessler, ehemaliger Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt, die wichtige Rolle von konkreten Massnahmen im Alltag bei der Förderung der Integration von Ausländern.

Thomas Kessler war während zehn Jahren, von 1998 bis 2008, der Integrationsbeauftragte des Kantons Basel-Stadt und führende Kraft hinter einem Integrationsmodell, das zu den fortschrittlichsten der Schweiz gehört. Auf die Fragen von swissinfo.ch hat er schriftlich geantwortet.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat keine grösseren Probleme bei der Ausländerintegration, weder im Arbeitsmarkt noch in den Schulen. Wir haben auch keine Ghettos. Wie bedeutend ist die politische Beteiligung der Ausländer denn letztlich?

Ausländer in Bern können bald mitreden

Die in der Stadt Bern wohnhaften Ausländer und Ausländerinnen können bald stärker am lokalen politischen Leben teilnehmen. Ab 1. November haben sie die Möglichkeit, ihre Forderungen mit einer so genannten Partizipationsmotion auzudrücken. Diese muss von mindestens 200 ausländischen Personen unterschrieben sein, die seit mindestens drei Monaten in der Hauptstadt leben. Dieses Instrument der politischen Partizipation für Ausländer wurde im Juni 2015 in einer Volksabstimmung angenommen.

Partizipationsmotionen werden dem Stadtrat zur Kenntnis gebracht und dem Gemeinderat zur Beantwortung überwiesen. Das neue Instrument soll es Einwohnern ohne Schweizer Pass ermöglichen, Vorschläge, Kritiken und Ideen auf kommunaler Ebene einzubringen. Laut den Befürwortern ist es ein erster Schritt in Richtung Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene.

Thomas Kessler: Das Wichtigste ist der Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die politische Beteiligung ist im grundsätzlichen Sinn wichtig, aber nicht im individuellen Alltag. Im Kanton Neuenburg etwa ist die Partizipation der Ausländer an der Urne sehr bescheiden [15% bei den letzten kantonalen Wahlen 2015, N.d.R.].

«Die politische Beteiligung ist im grundsätzlichen Sinn wichtig, aber nicht im individuellen Alltag.»

In Basel ist uns primär die konkrete Chancengleichheit wichtig. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass Ausländerinnen und Ausländer diese Rechte auch tatsächlich nutzen. Wir betreiben eine aktive Willkommenskultur, begrüssen alle individuell, klären sie über die Rechte und Pflichten auf und geben allen Fremdsprachigen im ersten Jahr Gratis-Deutschkurse. Gefährlich ist es, wenn es umgekehrt läuft – wie in Ländern, die ihre Zuzüger zwar rasch einbürgern, ihnen dann aber auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt keine Chancen geben. 

swissinfo.ch: Wo sehen Sie heute die grössten Herausforderungen bei der Ausländer-Integration?

T.K.: Zugang zu Bildung und Arbeit ist entscheidend, eine Integration ab dem erstem Tag ist in der heutigen, hochmobilen Zeit wichtig. Die Zuziehenden sollen die Ortssprache rasch lernen, sich qualifizieren und Arbeit finden können. So erhalten sie auch rasch soziale Kontakte, lernen unsere Kultur kennen und erhalten Zugang zum Wohnungsmarkt. Der Integrationsprozess soll zügig verlaufen und damit ganz selbstverständlich werden.

swissinfo.ch: Warum ist die Deutschschweiz beim Stimmrecht für Ausländer restriktiver als die Romandie? Auch in einem als offen geltenden Kanton wie Basel-Stadt wurde das Stimmrecht klar abgelehnt. Reichen die historischen Unterschiede in Sachen Staatsverständnis (französisches versus deutsches Modell) als Erklärung aus?

T.K.: Der Unterschied zwischen dem französischen und deutschen Staatsverständnis erklärt vieles, aber nicht alles. So gibt es im ländlichen Appenzell-Ausserrhoden in einigen Gemeinden das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Ausländer, aktiv und passiv. Die Verhältnisse sind übersichtlich, man kennt sich: Aus Sicht der Einheimischen braucht es daher keine Ausdifferenzierung zwischen In- und Ausländern.

«In der Deutschschweiz findet man eher praktische Schritte in Form von Ausländermotionen oder Petitionen.»

Die welschen Kantone sind offener für die Beteiligung der Ausländer, aber nicht absolut, sondern es geschieht in verschiedenen Formen und Schritten.

In der Deutschschweiz findet man eher praktische Schritte in Form von Ausländermotionen, Petitionen, Mitwirkung in Schulräten und Vereinen. Es gibt jedoch eine Schwelle bei der rein politischen Partizipation, weil im deutschschweizer Verständnis das Bürgerrecht ursprünglich mit konkreten Privilegien bei der Zuteilung des Allmendnutzens verbunden war, z.B. mit der Teilhabe an Holzerträgen aus dem Wald.

swissinfo.ch: Was braucht es, damit dieser Röstigraben verschwindet?

T.K.: Die kulturelle und politische Vielfalt ist ein Reichtum der Schweiz, die Unterschiede müssen nicht «verschwinden», sondern sich gegenseitig inspirieren und für einen Diskurs sorgen. Die Deutschschweiz kann von der welschen Gelassenheit lernen, die Romandie von der Verbindlichkeit in den behördlichen Beziehungen.

Es braucht beides, das ist das Erfolgsrezept der Schweiz. Der Graben wird verschwinden, wenn die Romandie bei der konkreten Integration in den Arbeitsmarkt, wo die Deutschschweiz viel effektiver ist, erfolgreicher wird, und wenn die Kantone und Kommunen in der Deutschschweiz schrittweise die Partizipation ausbauen.

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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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