Mädchen oder Junge? Kinder werden operiert, um ein Kästchen ankreuzen zu können
Angeblich kommen 1 bis 2% aller Kinder intersexuell zur Welt. Oft bleiben sie ihr Leben lang in schmerzlichem Schweigen gefangen. Der Dokumentarfilm "Ni d’Ève, Ni d’Adam. Une histoire intersexe" von Floriane Devigne gibt ihnen nun eine Stimme.
Die Westschweizer Regisseurin Floriane Devigne hinterfragt in dem Film die etablierten Geschlechter-Normen, für welche die Gesellschaft manchmal bereit ist, sehr weit zu gehen. Der französisch-schweizerische DokumentarfilmExterner Link läuft im Rahmen des Wettbewerbs am Festival Visions du Réel in Nyon.
Das Geheimnis der Intersexualität ist meist schwer zu ertragen. Das Tabu ist oft beklemmend, zerstörerisch. Floriane DevigneExterner Link wirft mit ihrem Film ein Schlaglicht auf diese Varianten der sexuellen Entwicklung und gibt Betroffenen eine Stimme.
Film führt zur Gründung eines Vereins
Aus der Freundschaft zwischen verschiedenen Protagonistinnen und Protagonisten des Films und deren Umfeld ist der Verein InterAction, l’Association Suisse pour les IntersexesExterner Link hervorgegangen. Die im Oktober 2017 gegründete Organisation bietet Unterstützung für Intersexuelle und deren Familien an, vor allem durch die Bereitstellung von Informationen. Die Organisation will auch «sichere Räume», Anlaufstellen für Betroffene, schaffen und betreibt eine Telefon-Hotline. Zudem fördert sie im Umgang mit Varianten der sexuellen Entwicklung einen Ansatz, der Intersexualität nicht als Leiden oder Krankheit betrachtet.
Informationen und Kontakt: https://www.inter-action-suisse.ch/homeExterner Link
Deborah und M., 25 und 27 Jahre alt, sind beide mit dem gleichen Geheimnis gross geworden: sie sind als Intersexuelle geboren. Das heisst, bei ihrer Geburt hatte man nicht sagen können, ob sie Mädchen oder Jungen waren. Weil die Gesellschaft es bisher nicht zulässt, der Binarität der Geschlechter zu entkommen, entschieden die Ärzte, dass die beiden Kinder Frauen sein würden.
«Sie operierten mich, um mir die Hoden zu entfernen. Im Alter von neun Jahren hatte ich eine weitere Operation, weil noch etwas gerichtet werden musste. Und noch eine mit zwölf Jahren. Bei dieser ging es nach Ansicht der Ärzte vor allem um Ästhetik, meiner Ansicht nach war dieser Eingriff verheerend», erzählt Deborah in dem Film.
So rasch wie möglich entscheiden, operieren und auf jeden Fall nicht darüber reden: So wurde und wird auch heute noch oft mit intersexuellen Kindern umgegangen. Deborah und M. erfuhren erst im Alter von sieben Jahren, dass sie intersexuell sind und daher auch unfruchtbar.
Nach einer Periode des Zweifels fühlt sich Deborah heute mit ihrer Identität wohl. Sie studiert an der Universität Lausanne und hat sogar beschlossen, ihre Abschlussarbeit dem Thema Intersexualität zu widmen. M. hingegen, die in Paris lebt, war bis heute eine Gefangene des Tabus. Ihren Ängsten ausgeliefert ringt sie mit einem Körper, den sie sich nicht zu eigen machen kann. «Ich kann mir die Zukunft nicht mehr vorstellen», sagt sie.
Ähnliche, aber unterschiedliche Schicksale
Als ihr eine Produzentin das Thema Intersexualität vorschlug, war Floriane Devigne zunächst skeptisch. Sie war nicht geneigt, ihre Kamera auf ein solch intimes Thema zu richten, über das sie kaum etwas wusste; auch schreckten sie die damit verbundenen harschen medizinischen Aspekte ab.
Doch ein Treffen mit den Protagonistinnen inspirierte die Lausanner Regisseurin schliesslich und sie entschied sich, eine Korrespondenz zwischen den beiden jungen Frauen als roten Faden für den Film zu nutzen. Durch den Austausch von E-Mails offenbaren sie sich, teilen ihre Zweifel und die Erfahrungen, die sie machen, weil sie anders sind.
Die Geschichten von M. und Deborah sind ähnlich, unterscheiden sich aber in einem wesentlichen Punkt: M. ist in Frankreich aufgewachsen, Deborah in der Schweiz.
«Deborah hatte das Glück, von einem Arzt am Universitätsspital Lausanne begleitet zu werden, der vor 20 Jahren als einer der einzigen in Europa sein Vorgehen hinterfragt hatte», erklärt Devigne. Und heute kämpft er gegen frühe Interventionen bei intersexuellen Neugeborenen. «Es braucht nicht dringend eine Operation. Die Not der Eltern ist kein Grund dafür, ein Kind zu operieren», bekräftigt er vor der Kamera – gegen den Rat vieler seiner Kollegen.
«Man konstruiert kleinen Mädchen eine Vagina, um sicherzustellen, dass sie in Zukunft von diesen Herren penetriert werden können.»
Floriane Devigne
In Frankreich fand die Regisseurin keinen Arzt, keine Ärztin, die bereit gewesen wären, öffentlich dieselben Aussagen zu machen. So stossen die Fragen von M. immer wieder auf Schweigen oder auf einen von Gewalt geprägten medizinischen Diskurs. Sie sollten kein zweites Kind machen, hatte man ihren Eltern erklärt.
«Viele intersexuelle Menschen haben sich den Diskurs der Mehrheit einverleibt. Sie sind überzeugt, dass sie unter einer Fehlbildung oder einer Erkrankung leiden, und dass man sie reparieren muss», bedauert Devigne; diese Feststellung macht sie traurig.
«In dem Alter ist einem das egal!»
Im Film wird die Frage aufgeworfen: Wie weit ist die Gesellschaft, im Namen der Norm, bereit zu gehen? Die erschütterndste Szene des Films bringt eine beunruhigende Antwort. Deborah spricht mit ihrer 16 Jahre alten Schwester Sereina zum ersten Mal über ihre Intersexualität und die Eingriffe, denen sie sich unterziehen musste. Insbesondere beschreibt sie im Detail die regelmässigen Spitalbesuche, um – unter Narkose – zu überprüfen, dass sie «durchaus ’normalen› Sex mit einem Mann haben kann». Dieses Vorgehen klingt verrückt, wenn man ein neun Jahre altes Mädchen ist: «In dem Alter ist einem das egal!»
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«Ich fühle mich als Mann und Frau zugleich»
Die Ärzteschaft konzentriert sich auf das gute Funktionieren der Organe ihrer Patientinnen und Patienten und verliert dabei deren emotionales Wohlbefinden aus den Augen. «In der Pubertät wurden wir systematisch danach gefragt, ob wir mit jemandem eine Beziehung hätten, aber nie, ob wir glücklich sind», erklärt im Film die ebenfalls intersexuelle Audrey.
Die Möglichkeit, sich ausserhalb der Norm zu entfalten, wird gar nicht in Betracht gezogen. «Man konstruiert kleinen Mädchen eine Vagina, um sicherzustellen, dass sie in Zukunft von diesen Herren penetriert werden können. Das ist haarsträubende Gewalt», erklärt Devigne. Sie ist empört: «Das heisst auch, einfach davon auszugehen, dass es die Norm ist, heterosexuell zu sein und Kinder haben zu können.»
Gefangene des Schweigens
Neben den Operationen und der Schwierigkeit, mit einem Geschlecht zu leben, das andere für einen bestimmt haben, bleibt das Schweigen der grösste Feind von intersexuellen Menschen. In der Vergangenheit hatte es zum Umgang mit Intersexualität gehört, nicht darüber zu sprechen. «Wir hätten gerne Eltern von anderen intersexuellen Kindern getroffen, aber die Ärzte rieten uns davon ab», erklärt Deborahs Vater nach der Premiere des Films.
Die Kamera bleibt aber nicht beim Leiden stecken, sondern enthüllt das Entstehen einer Freundschaft, eine von denen, welche die Kraft haben, Ketten zu sprengen, die einem davon abhalten, zu leben. Schritt um Schritt gelingt es M., das Tabu zu brechen, ihr Panzer zerbröckelt im Kontakt mit Deborah, aber auch mit Audrey und Edward, die ebenfalls intersexuell sind. «Ich habe versucht, den Moment festzuhalten, in dem wir der Gesellschaft etwas sagen, über das man nach Meinung vieler nicht sprechen sollte», erklärt Floriane Devigne.
M. wird sich schliesslich offenbaren, und Deborah findet die Worte, um ihre Geschichte endlich mit ihrer Schwester zu teilen. Und wenn es für eine von beiden schmerzhafter war, aus dem Schatten zu treten, als für die andere, war es, weil, wie Deborah sagt: «Ich hatte ein Geheimnis. M. hatte ein Tabu.»
Intersexualität: Operationen mit schwerwiegenden Konsequenzen
Vollständige und verlässliche Statistiken über die Zahl der Intersexuellen gibt es nicht. Häufig zitiert wird eine Studie von Anne Fausto-Sterling, Professorin für Biologie an der Brown University in den USA, die schätzt, dass etwa 1,7% der Bevölkerung intersexuell sind. Manchmal sind die Variationen der geschlechtlichen Unterschiede bei der Geburt nicht sichtbar und zeigen sich erst später.
In gewissen Fällen ist eine sofortige medizinische Intervention nötig, weil Lebensgefahr besteht, in vielen Fällen sind solche Eingriffe hingegen nicht gerechtfertigt.
Früher waren viele Kinder ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale rasch operiert worden, um ihnen ein klares Geschlecht zuzuweisen. Diese Operationen waren manchmal ohne Einwilligung der Eltern erfolgt und hatten oft irreversible Konsequenzen.
Seit den 1990er-Jahren zeigten Untersuchungen, dass Kinder, die frühzeitig operiert worden waren, im Erwachsenenalter sowohl unter körperlichen als auch psychischen Komplikationen litten. Die Ärzteschaft hat zwar angefangen, ihre Einstellung zu ändern, aber es gibt bisher kein Gesetz, das die Fragen verbindlich regelt.
Nachdem die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) einen Bericht zu dem Thema veröffentlicht hatte, unterstrich die Schweizer Regierung 2016, dass verfrühte oder vermeidbare Eingriffe gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstiessen. Wenn immer möglich müsse mit irreversiblen Behandlungen gewartet werden, bis das betroffene Kind alt genug sei und selbst entscheiden könne.
(Quelle: sda)
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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