«Ich fühle mich als Mann und Frau zugleich»
Im Alter von 16 Jahren hat Edward erfahren, dass er intersexuell ist. Eine Diagnose, die sein Leben dramatisch veränderte. Nach "Jahren des Albtraums" lernte er, sich zu akzeptieren, fühlt sich aber noch oft unverstanden. Der heute 33 Jahre alte Genfer bedauert, dass die Ärzte ihn nicht ernster genommen haben.
Zwischen Mann und Frau. Zwischen Hass und Liebe. Zwischen Leidenschaft und Verzweiflung. All diese Gegensätze charakterisieren Edward und machen aus ihm eine dieser Persönlichkeiten, die ihre Gesprächspartner erschüttern können. Es ist die Geschichte eines «zu sensiblen knallharten Typs», wie er sich selber beschreibt. Die Geschichte eines Kampfes um Verständnis – in einer Gesellschaft, die Mühe hat, sein Anderssein zu verstehen.
Was bedeutet LGBTIQ?
Das aus dem Englischen stammende Kürzel LGBTIQ steht für lesbische, schwule (gay), bisexuelle, transsexuelle, intersexuelle und queere Personen. Im Lauf der Zeit sind andere Begriffe erschienen, um die verschiedenen sexuellen Orientierungen und Geschlechts-Identitäten zu definieren.
Hinter diesen Buchstaben stehen viele Lebensgeschichten. Manchmal sind sie schmerzhaft, manchmal einfach, aber immer einzigartig. swissinfo.ch widmet in den nächsten Wochen jedem Begriff, der in diesem Akronym enthalten ist, ein Porträt. Wir wollen LGBTIQ-Personen eine Stimme geben und ihre Träume, Errungenschaften und Forderungen zur Sprache bringen. Die Serie versteht sich als Beitrag zur Meinungsbildung in einer äusserst aktuellen Gesellschaftsdebatte.
Es ist ein Kontrast, Edward mit seinen Tätowierungen und Piercings, der neben seiner Mutter Kate im gemütlich wirkenden Wohnzimmer der Wohnung der Familie sitzt, aus dem man einen fantastischen Blick auf das Genfer Seebecken hat. Auch die schwarz-weissen Porträts seiner Vorfahren, die hinter ihm zu sehen sind, scheinen ein offenes Ohr für seine komplexe, verschlungene Geschichte zu haben.
«Sie sind ein Mutant. Sie werden weder je Kinder haben, noch ein normales Leben.» Mit diesen Worten informierte der Arzt Edward, dass er eine intersexuelle Person sei. Edward war damals 16 Jahre alt. Und sass allein mit dem Arzt in der Praxis.
Auch im Alter von 32 Jahren verfolgt ihn dieses Verdikt weiter. Seine Stimme bricht leicht, als er seinem Hass für eine Medizin Ausdruck gibt, die ihn weder zu unterstützen noch zu schützen wusste. Wie seine Mutter hat er den Eindruck, er sei als medizinische Kuriosität behandelt worden, statt als junger Patient, der Hilfe brauchte.
Ein Körper, der weibliche Formen annimmt
Bei seiner Geburt 1984 gab es keine Hinweise darauf, dass Edward von einer Variation der sexuellen Entwicklung betroffen sein könnte. Seine Mutter beschreibt ihn aber als «Kind, das schon immer anders war». Die Schullaufbahn des wilden Jungen, der er war, sollte sich als chaotisch erweisen. Die Schwierigkeiten begannen ab dem Kindergarten. «Im Alter von 10 Jahren wurde bei ihm ein Aufmerksamkeitsdefizit diagnostiziert», erinnert sich seine Mutter. Später wurde er von zwei Schulen verwiesen, danach in ein Internat geschickt.
Als er um die 12 Jahre alt war, wurde die Situation komplizierter. Wie seine Freunde, wurde Edward grösser. Wie seine Freunde erwartete er, dass seine Stimme tiefer werden würde, seine Barthaare zu spriessen beginnen würden, sein Körper sich zum dem eines Mannes entwickeln würde. Doch bei ihm passierte nichts. Schlimmer, sein Körper ging den entgegengesetzten Weg: «Meine Hüften nahmen feminine Formen an, und meine Brüste begannen sich zu entwickeln.» Eine traumatisierende Erfahrung für den Jugendlichen. «Im Internat weigerte ich mich, mit den anderen zu duschen. Ich fühlte mich weder als Mann, noch als Frau. Ich fühlte mich als Nichts.»
Zu seinem Unbehagen kamen die verletzenden Worte. «Man nannte mich einen ‹dreckigen Schwulen›.» Eine Beschimpfung, die Edward nicht mehr länger duldet, nicht nur, weil er nicht akzeptiert, dass man seine schwulen Freunde beleidigt, sondern auch, weil sie das Unverständnis verdeutlicht, das die Intersexualität umgibt. «Weil das Wort ‹Sex› Teil des Begriffs ist, glauben die Leute oft, dies bedeute, dass ich schwul sei. Dabei hat Intersex nichts mit sexueller Orientierung zu tun», unterstreicht er mit lauter werdender Stimme, bis er fast schreit. Dann besinnt er sich und erklärt: «Es tut mir leid, aber es ist wichtig, dass Sie das wirklich verstehen.»
«Ohne Testosteron war ich in meinem Kopf wie ein 10 Jahre altes Kind: Ich flippte völlig aus, ohne je an die Konsequenzen meiner Handlungen zu denken, ich kannte überhaupt keine Grenzen.»
Jahrelanger Alptraum
Als er 16 Jahre alt war, fanden die Ärzte schliesslich heraus, dass Edward das Klinefelter-Syndrom hat, eine Variation der Geschlechts-Chromosomen. Statt wie bei Männern üblich ein X- und ein Y-Chromosom hat Edward ein weiteres X-Chromosom, also XXY. Sein Körper produzierte deshalb kein oder nur wenig des Sexualhormons Testosteron, daher hatte er auch die Pubertät nicht durchlaufen.
Die Ärzte verschrieben ihm eine Hormonbehandlung, eine Spritze pro Monat. «Das ist sehr schmerzhaft», erklärt er. «Die Flüssigkeit wird im unteren Rückenbereich eingespritzt, und es dauert sehr lange, weil die Substanz ölig ist und nur langsam eindringt. Ich konnte jeweils einen Abend oder einen Tag lang nichts tun.»
Um die Nebenwirkungen zu vermindern, ersetzte sein Arzt die Spritzen durch Pflaster. Diese waren zwar weniger unangenehm, aber auch weniger wirksam. «Ich sah keinen Fortschritt. Zudem hatte ich ein sehr verständnisvolles Mädchen kennengelernt, das mir sagte, dass sie mich akzeptiere, wie ich sei, und dass ich kein Testosteron brauche.» Edward liess sich überreden und gab die Behandlung auf. Ein Entscheid, der den Anfang einer düsteren Periode markieren sollte.
Zwischen 16 und 23 durchlief der junge Mann eine schwerwiegende Identitätskrise. «Ohne Testosteron war ich in meinem Kopf wie ein 10 Jahre altes Kind: Ich flippte völlig aus, ohne je an die Konsequenzen meiner Handlungen zu denken, ich kannte überhaupt keine Grenzen», erinnert er sich. Die Tatsache, dass er überhaupt kein Selbstvertrauen hatte, gekoppelt mit Unbehagen und Aggressivität, führten zu einer «kaum überschaubaren Menge an Problemen». Er war überwältigt von Hass. «Alle waren meine Feinde, sogar meine Mutter. Dieser Hass war es aber auch, der mich überleben liess.»
«Mama, was bin ich?»
Wenn der Hass ein Grund zum Leben wird, isoliert er: Zwischen dem jungen Mann und seiner Umgebung kam es zu einem schmerzhaften Bruch. «Das war ein jahrelanger Albtraum. Edward wusste nicht mehr, wer er war. Manchmal kam er zu mir, in Mädchenkleidern, und fragte mich: ‹Mama, was bin ich?'», erinnert sich Kate. Als Mutter fühlte sie sich damals allein, machtlos; sie hatte Mühe, bei Ärzten und Psychiatern Unterstützung zu finden, die umsonst versuchten, den Zustand ihres Sohnes durch psychische Krankheiten zu erklären. «Es ist dramatisch, ein Kind zu haben, das einem immer und immer wieder sagt, dass es sich umbringen will», sagt sie mit feucht glänzenden Augen.
In ihrer Verzweiflung machte sich Kate selber auf die Suche nach Informationen über intersexuelle Menschen. Im Lauf ihrer Recherchen entschied sie sich, eine These über die Erfahrungen einer Mutter mit einem Kind zu verfassen, das nicht ist wie die meisten anderen. Sie stiess auf die psychologischen Auswirkungen, die Testosteronmangel auf die Psyche von Männern hat, und kam zur Überzeugung, dass ihr Sohn die Hormonbehandlung wieder aufnehmen müsse. «Nach vielen Diskussionen, nach Schreien und Tränen, akzeptierte ich das endlich auch. Es war vor allem das Risiko, dass ich unter Osteoporose leiden würde, das mich überzeugt hat», erklärt Edward.
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Pubertät im Alter von 23 Jahren
Es wurde zu einer Art Befreiung. Dank dem Testosteron durchlief der junge Mann im Alter von 23 Jahren seine Pubertät. Sein Körper wandelte sich: Die Muskelmasse in seinem Nacken und seinen Schultern entwickelte sich, seine Stimme wurde tiefer. Vor allem aber fand er zu einer gewissen Abgeklärtheit und Ruhe zurück. «Welche Erleichterung», sagt er. «Dies war die Zeit, in der ich erwachsen wurde.» Auch für seine Mutter war es eine Erlösung: «Die Sexualhormone helfen, die kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln. So verstand er dann auch die Konsequenzen seiner Handlungen besser.»
Die Jahre des Umherirrens verstärkten die Bande zwischen Edward und seiner Mutter, die mittlerweile die Vereinigung SAMEDExterner Link gegründet hat, eine Unterstützungsgruppe für Mütter von Kindern, die auf irgendeine Art anders sind, als die meisten Kinder. «Meine Geschichte, das ist auch ihre. Durch sie konnten wir uns eine harte Schale zulegen», kommentiert der Sohn.
Zukunft noch offen
Auf Fragen über seine Zukunft zögert Edward nicht mit einer Antwort: «Ich sehe sie nicht.» Wie alle Menschen mit dem Klinefelter-Syndrom ist Edward steril, was ihn hart trifft. «Ich habe den Eindruck, dass die Tatsache, dass ich keine Kinder haben kann, meine Beziehungen zu Frauen tötet.» Er flüchtet sich daher in Träume einer Reise nach Costa Rica und begeistert sich für Fotografie.
XXY, diese drei Buchstaben sind mittlerweile auf seinen Arm tätowiert. Ein Beweis dafür, dass er sich heute selber annimmt, wie er ist: eine intersexuelle Person. Und er sieht darin gar einige Vorteile: «Ich fühle mich als Mann und Frau zugleich, bei Entscheiden, die ich fälle und in meinem Körper. Meine verbindlichen Entscheidungen gehen auf meine weibliche Seite zurück. Meine Schwächen liegen eher auf Seite meines Körpers, auf meiner männlichen Seite.» Eine Ruhe und Gelassenheit, die er vor allem in seiner Leidenschaft für das Fixie findet, diesem Stadtvelo ohne Gangschaltung und Bremsen.
«Die Tätowierungen haben mir geholfen, meinen Körper anzunehmen, das Velo hilft mir, meine Emotionen zu meistern.»
Intersexualität: Operationen mit schwerwiegenden Konsequenzen
In der Schweiz kommen jedes Jahr rund 40 Kinder zur Welt, bei denen nicht klar gesagt werden kann, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Manchmal sind die Variationen der geschlechtlichen Unterschiede bei der Geburt nicht sichtbar und zeigen sich erst später.
In gewissen Fällen ist eine sofortige medizinische Intervention nötig, weil Lebensgefahr besteht, in anderen Fällen sind solche Eingriffe hingegen nicht gerechtfertigt.
Früher waren viele Kinder ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale rasch operiert worden, um ihnen ein klares Geschlecht zuzuweisen. Diese Operationen waren manchmal ohne Einwilligung der Eltern erfolgt und hatten oft irreversible Konsequenzen.
Seit den 1990er-Jahren zeigten Untersuchungen, dass Kinder, die frühzeitig operiert worden waren, im Erwachsenenalter sowohl unter körperlichen als auch psychischen Komplikationen litten. Die Ärzteschaft hat zwar angefangen, ihre Einstellung zu ändern, aber es gibt bisher kein Gesetz, das die Fragen verbindlich regelt.
Nachdem die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) einen Bericht zu dem Thema veröffentlicht hatte, unterstrich die Schweizer Regierung 2016, dass verfrühte oder vermeidbare Eingriffe gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verstiessen. Wenn immer möglich müsse mit irreversiblen Behandlungen gewartet werden, bis das Kind alt genug sei und selbst darüber entscheiden könne.
(Quelle: sda)
Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch
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