«Die Schweiz muss wissen, wohin sie will in der Welt»
E-ID und die Auslandschweizerinnen, die neue Afrika-Strategie und die Rolle der Schweiz im Nahen Osten: Bundesrat Ignazio Cassis im Interview.
swissinfo.ch: Herr Bundesrat Cassis, bei der Abstimmung zur E-ID wird es knapp. Sie haben uns zu einem Gespräch darüber eingeladen. Braucht der Bundesrat die Auslandschweizer, um noch ein Ja zu kriegen?
Ignazio Cassis: Ja, natürlich braucht der Bundesrat die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Er braucht eine Mehrheit. Ob diese aus dem Inland oder aus dem Ausland kommt, ist nicht entscheidend. Aber die Auslandschweizer haben einen Grund mehr, für ein Ja zu stimmen, denn sie wollen gute und kundenfreundliche konsularische Dienste.
Kundenfreundlich heisst: Sie müssen nicht zwei Stunden fahren, um am Schalter ihre Identität zu zeigen oder mühsam per Post ihren Pass oder eine Passkopie einreichen. Die elektronische Identität wäre tatsächlich das Wundermittel, um diese einfache und sichere Identifizierung für konsularische Dienstleistungen zu ermöglichen.
Die Auslandschweizer-Organisation ASO hat eine Ja-Parole zur E-ID gefasst, aber eher halbherzig. ASO-Vizepräsident Filippo Lombardi sagte, die E-ID habe für die Fünfte Schweiz nur eine relative Relevanz. Irrte er also?
Ich bin jedenfalls anderer Meinung. Man vermischt die Themen E-Voting und E-ID oft. Sie haben nicht direkt miteinander zu tun. E-Voting ist auch ohne E-ID möglich, dürfte aber viel einfacher zu realisieren sein, wenn die elektronische Identität schon existieren würde.
Während Jahren kämpfte die Fünfte Schweiz gegen eine Reduktion des Schweizer Aussennetzes. Kürzlich bestätigte Ihr Aussendepartement, dass kleinere Vertretungen wieder gestärkt werden. Wo findet dieser Ausbau statt?
Die Bedarfsanalyse läuft noch. Wir sprechen aber von einem Umbau, nicht von einem Ausbau, weil Stellen von der Zentrale ins Aussennetz verschoben werden. Wir haben in den letzten Jahren auf den Vertretungen Stellen mit versetzbarem Personal abgebaut und diese durch lokal rekrutierte Personen ersetzt. In der Covid-Krise stellten wir fest, wie wichtig ein starkes Aussennetz ist, um Schweizer Bürger in Not zu unterstützen.
Kleinere Vertretungen kommen in einer solchen globalen Krise schnell an ihre Grenzen. Klar kann man von Bern aus einspringen mit Ersatz-Personal, aber gewisse Vertretungen müssen grundsätzlich gestärkt werden, sowohl mit konsularischem wie diplomatischem Personal.
War es nur die Pandemie, die zu dieser Wende führte?
Nein. Covid zeigte die Schwachstellen noch stärker auf. Ich hatte aber schon vor der Pandemie den Eindruck, dass einige Vertretungen an der Grenze des Machbaren operierten. Zum Teil aus Ressourcengründen, teils fehlten klare Ziele und Aufträge. Der Auftrag von mir war also schon vorher da, denn für mich war immer klar: Unser Kerngeschäft ist nicht die Zentrale in Bern, sondern sind unsere Vertretungen im Ausland.
Unter dem Strich eine Abkehr von der bisherigen Strategie, nicht?
Es ist nicht so Schwarzweiss. Wir evaluieren unser Aussennetz kontinuierlich, ob es den aktuellen Herausforderungen entspricht. Man schliesst ein Generalkonsulat an einem Ort, anderswo wird ein neues eröffnet. Auf vier Schliessungen folgen vielleicht fünf Öffnungen, man muss das auf einer längeren Zeitachse betrachten. Dann sieht man auch, dass wir ziemlich konstant mit 170 Vertretungen in der Welt präsent sind. Aber ja, wir haben auch Fehler gemacht: Chicago war einer. Dieses Generalkonsulat hätten wir nicht schliessen sollen. Ich machte das rückgängig.
Ein grosses Thema unter Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern ist im Moment der Zugang zu Impfungen. Viele überlegen sich eine Reise in die Schweiz, um zu einer Impfung zu kommen. Offenbar führt das Aussendepartement mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) in dieser Angelegenheit Gespräche. Gibt es eine Lösung?
Es gab Gespräche zwischen EDA und BAG, aber da ging es vor allem um Impfungen für ausländische Diplomaten in der Schweiz, ebenso für das Personal im internationalen Genf. Bei Auslandschweizern ist es so, dass sie sich grundsätzlich in ihrem Wohnsitzland impfen lassen müssen. Das schliesst aber nicht aus, dass sie für eine Impfung in die Schweiz reisen können. Allerdings geniessen nur in der Schweiz versicherte Personen einen kostenlosen Zugang zur Impfung.
Sie selbst sind soeben von einer Reise zurück, auf der Sie Algerien, Mali, den Senegal und Gambia besuchten. Gibt es Fortschritte bei den Migrationsabkommen, insbesondere mit Algerien?
Bei der Migration von Westafrika nach Norden spielt Algerien eine fundamentale Rolle bezüglich Drosselung von Migration, aber auch in Sachen Schutz für Vertriebene. Dass es nicht viel grössere Probleme auf der Migrationsroute von Westafrika gibt, ist auch diesem Land zu verdanken. Diese Anerkennung, dass Algerien einen guten Job macht, konnten wir zum Ausdruck bringen.
Die Herausforderung dieser Länder wird oft vergessen, wenn wir in der Schweiz von Migration reden. Dies anzuerkennen öffnete die Tür für Gespräche über die konkrete Rückübernahme, wie auch allgemein über bilaterale Rückübernahme-Abkommen.
Aber das Ziel der Schweiz lautet: Rückübernahmen sollen funktionieren, richtig?
Das ist zu salopp ausgedrückt und muss differenzierter betrachtet werden. Es geht um menschliche Existenzen und um interkulturelle Sensibilitäten. Algerien möchte beispielsweise aus innenpolitischen Gründen Bilder von gecharterten Rückführungsflügen vermeiden, auch wenn die Personen freiwillig zurückkehren. Solche Sensibilitäten gilt es in Gesprächen zu berücksichtigen und gemeinsam konstruktive Lösungen zu erarbeiten.
Wie ist eigentlich der Ruf der Schweiz in den bereisten Ländern?
Der Respekt dafür, dass die Schweiz bezüglich Afrika eine eigene StrategieExterner Link hat, war in diesen vier Ländern enorm. Man muss wissen: Die Schweiz hat zum ersten Mal überhaupt eine Afrika-Strategie, also eine Vision, von der sich Ziele ableiten lassen. Diese Ziele führen zu Massnahmen, und die Resultate dieser Massnahmen lassen sich an den Zielen messen.
Das klingt nach Papier, nicht sehr konkret.
Ist es aber. Nehmen Sie Mali, regiert von einer Transitionsregierung. Die Menschen dort leben in grosser Unsicherheit, trotz grosser Präsenz von Sicherheitskräften aus aller Welt. Hier boten wir an, die nächsten Wahlen im Frühjahr zu begleiten. Auch könnten wir das Land beim Schreiben seiner Verfassung unterstützen.
Dann ist die Schweiz dort in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Ich besuchte eine Molkerei. Die Kühe gaben ursprünglich zwei bis drei Liter Milch pro Tag. Mit unserem Wissen und entsprechender Zucht geben sie nun 7 bis 8 Liter. Ziel ist 20 Liter pro Tag – zehnmal mehr mit demselben Aufwand.
Und warum misst die Schweiz Mali überhaupt diese Bedeutung zu?
Das ist proaktive Aussenpolitik, wie sie für mich sehr wichtig ist. Die Aussenpolitik der Schweiz wird oft als opportunitätsgetrieben und reaktiv angesehen: Da leisten wir Hilfe, dort bieten wir unsere guten Dienste an. Das ist alles wichtig und das bleibt, aber es genügt nicht. Die Schweiz muss wissen, wohin sie will in der Welt. Dafür haben wir geografische und thematische Strategien erarbeitet. Meine Afrika-Reise bildete nun den Startpunkt der Umsetzung der Subsahara-Afrika Strategie.
Bezüglich Migration gewinnt der Maghreb enorm an Bedeutung. Ist das auch auf dem Radar?
Ja, die zunehmende Bedeutung des Maghreb ist der Grund meiner Reise in die Region. In Ägypten war ich 2019, in Algerien war seit 15 Jahren kein Aussenminister mehr zu Besuch. Auch in Tunesien, Marokko und Libyen war seit vielen Jahren kein Schweizer Aussenminister mehr. Diese Länder wurden in den letzten Jahren etwas vernachlässigt, deshalb ist es nun mein Ziel, eines nach dem anderen zu besuchen.
Möchten Sie an den Themen dranbleiben, die in der Schweiz diskutiert werden?
Mit der 📱-App ‹SWI plus› erhalten Sie täglich ein kurzes Briefing mit den wichtigsten Themen und Debatten aus der Schweiz und zu allen Fragen der Schweizerinnen und Schweizer im Ausland:
👉 AndroidExterner Link
👉 iPhoneExterner Link
Ihr Besuch in Jordanien im Jahr 2018 gibt in der Schweiz noch immer zu reden. Sie werden innenpolitisch angegriffen, auch weil Sie sich damals kritisch zum Palästinenserhilfswerk UNWRA geäussert hatten. Wie sehen Sie die Nahost-Situation heute?
Dass eine zunehmende Anzahl von arabischen Ländern die Beziehungen zu Israel normalisiert hat, ist eine sehr wichtige Entwicklung. Es zeigt, dass in einer Region, wo Konflikte und Misstrauen dominieren, auch Kooperation und Versöhnung möglich ist. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass dadurch nicht neue Klüfte im Nahen Osten entstehen.
Diese positive Dynamik führt dazu, dass die Palästinenser wieder ernsthaft über die innere Versöhnung sprechen. Die palästinensische Behörde in Ramallah kann z.B. heute nicht entscheiden, was in Gaza passiert. Diese Spaltung schwächt die Legitimität der palästinensischen Institutionen. Meine Hoffnung ist, dass sie bald Wahlen organisieren und wieder mit einer Stimme sprechen. Dann wird die ganze Welt zuhören.
Auch Israel?
Ich besuchte letztes Jahr zuerst meinen Kollegen in Israel, danach die besetzten Gebiete. Auch dort traf ich den Premierminister und meinen Amtskollegen. Ich sagte beiden: «Wir müssen wieder an einen Tisch kommen, aber nicht mit fertigen Resultaten im Kopf.» Ich habe auch Genf als Ort für künftige Verhandlungen angeboten.
Die Schweiz als Mediatorin im Nahostkonflikt? Das läuft tatsächlich?
Ich habe bei diesem Besuch wieder bemerkt, wieviel Vertrauen die Schweiz bei beiden Parteien geniesst. Unsere guten Dienste stehen zur Verfügung. Jetzt müssen sich die Parteien aber zu Verhandlungen einigen. Mit den anstehenden Wahlen in Israel und in den Besetzten Gebieten rechne ich aber mit Verzögerungen.
Der Rahmen ist aber gegeben: Die Schweiz steht für eine Zweistaatenlösung ein.
Ja. Die Zweistaatenlösung ist das Ziel. Das Völkerrecht ist der Rahmen. Es ist aber an den Parteien, zu verhandeln, wie sie dahin kommen. Mit der Unterstützung der Schweiz und der internationalen Gemeinschaft.
Mit der neuen Präsidentschaft in Washington werden die Karten in der Region neu gemischt. Joe Biden möchte zum Beispiel den Jemen-Konflikt rasch beenden. Noch ein Job für die Schweiz als Mediatorin?
Wir haben unsere guten Dienste selbstverständlich schon längst angeboten und unterstützen bereits heute die UNO im Bemühen, für den Jemen eine politische Lösung zu finden. Joe Bidens Entscheid ist wichtig. Er hat das Potenzial, Druck zu machen für eine friedliche, politische Lösung des Konfliktes.
Ich werde am 1. März mit meiner Kollegin aus Schweden eine Geberkonferenz für humanitäre Hilfe in Genf durchführen. Die Bedürfnisse sind immens. Es ist im Jemen wirklich Zeit für einen dauernden Waffenstillstand.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch