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«Wir dürfen die Menschen im Iran nicht allein lassen»

Demonstration in Bern
Die internationale Kampagne für die iranische Demokratiebewegung findet auch in der Schweiz statt. Im Bild eine Demonstration in Bern, 5. November 2022. Keystone / Anthony Anex

Schweizer Parlamentarier:innen haben politische Patenschaften für zum Tod verurteilte Demonstrierende im Iran übernommen. Sie wollen damit Aufmerksamkeit generieren – und fordern die eigene Regierung auf, Klartext zu sprechen.

«Wir müssen auf diese Menschenrechtsverletzungen hinweisen und den Menschen eine Stimme geben», sagt Sibel Arslan. Die grüne Nationalrätin ist «politische Patin» des Schauspielers Hossein Mohammadi, der wegen «Korruption auf Erden» zum Tod verurteilt wurde.

Der Hintergrund: In Schnellverfahren ohne anwaltlichen Beistand – die von NGOs und Menschenrechtler:innen als Schauprozesse bezeichnet werden – wurden im Iran mehrere Menschen zum Tod verurteilt, was international für heftige Kritik sorgte.

Um auf deren Schicksal aufmerksam zu machen, haben in der Schweiz mehrere Parlamentarier:innen quer durch die Parteienlandschaft solche politische Patenschaften übernommen.

Auch Lilian Studer, Nationalrätin und Präsidentin der Evangelischen Volkspartei. Der 15-jährige Amir Hossein RahimiExterner Link, dem sie als Patin beisteht, wurde an einer Demonstration verletzt und verbrachte zwei Monate in Haft. Die Anklage lautet auf «Krieg gegen Gott», die mit dem Tod bestraft werden kann.

Rahimi wurde nach medialem Druck auf Kaution freigelassen. Die internationale Aufmerksamkeit sei essenziell, sagt Studer: «Wichtig ist jetzt, diesen Druck aufrechtzuerhalten.» Denn die Anklage gelte weiterhin, die Gefahr sei noch nicht gebannt.

Der internationale Druck auf den Iran hat auch die UNO erreicht: Das Land wurde aus der UN-Frauenrechtskommission geworfen, ein Antrag für eine unabhängige Untersuchungskommission zur staatlichen Gewalt wurde im Menschenrechtsrat mit grosser Mehrheit angenommen. Bisher sind gemäss AngabenExterner Link der NGO Iran Human Rights 460 Menschen getötet worden, darunter über 60 Minderjährige.

Eine internationale Kampagne

Die beiden Nationalrätinnen sind Gründungsmitglieder der parlamentarischen Gruppe Free Iran, in der bereits über 50 Politiker:innen aus dem gesamten politischen Spektrum Mitglied geworden sind.

Zuvor haben in Deutschland mehrere Bundestagsabgeordnete ähnliche Patenschaften übernommen, weitere Länder werden folgen, sagt Kijan Espahangizi.

Der Historiker ist Teil der unabhängigen Plattform Free Iran Switzerland, die Solidaritätsaktionen mit der iranischen Demokratiebewegung organisiert und in Kontakt steht mit der Diaspora in Deutschland.

«Die Patenschaften werden im Iran registriert, die Menschen sehen genau, wer sich mit ihnen solidarisiert», so Espahangizi. Die staatliche Gewalt und die Exekutionen bezeugen den moralischen Bankrott des Regimes, sagt Espahangizi.

Er ist wie andere Expert:innen überzeugt, dass das Regime angezählt ist – der Grossteil der Bevölkerung möchte einen Systemwechsel. «Jetzt über Dialog zu sprechen, geht an der Realität vorbei. Es ist an der Zeit für eine Wende in der Iran-Politik.»

Espahangizi plädiert dafür, dass die Schweiz vollumfänglich EU-Sanktionen übernimmt. Das Schutzmachtmandat, mit dem die Schweiz den einzigen offiziellen Kommunikationskanal zwischen den USA und dem Iran pflegt, wäre dadurch nicht gefährdet, ist er überzeugt: «Der Iran hat ein Interesse daran, dass dieser Kanal erhalten bleibt.»

Sanktionen übernehmen oder nicht?

Das Mandat steht im Zentrum der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Iran. Die Staatssekretärin Livia Leu hat in einem InterviewExterner Link mit der Sonntagszeitung die offizielle Linie verdeutlicht: «Wir machen bei jenen Sanktionen nicht mit, die unseren offenen und kritischen Dialog mit den Behörden gefährden könnten.»

Die internationale Vermittlungstätigkeit sei gerade jetzt wichtig. Bern betont stets, dass es durch die Arbeit abseits der Öffentlichkeit in Menschenrechtsfragen mehr erreichen kann.

Doris Fiala von der FDP hat die Patenschaft für Shayan Charani übernommen, der des Mordes an einen Basij-Milizionär angeklagt ist – auch er ohne faires Verfahren.

Dass die Schweiz bereits einige EU-Sanktionen im Zusammenhang mit der Produktion iranischer Drohnen übernommen hat, die nach Russland geliefert werden, begrüsst sie ausdrücklich.

«Würde ich nach dem Herzen entscheiden, würde ich alle EU-Sanktionen übernehmen. Ich glaube jedoch, der Sache ist besser gedient, wenn wir via die Kanäle, die unser Mandat ermöglichen, Einfluss nehmen», so Fiala.

Die Schweiz könne in dieser Sonderrolle ihre Guten Dienste spielen lassen und – wie in der Vergangenheit – für einzelne Betroffene das Schlimmste abwenden.

Der Umgang mit dem Iran sei schon immer schwierig gewesen, sagt Studer. «Unsere Partei hat stets auf die Situation von iranischen Asylsuchenden hingewiesen – die Lage im Land ist schon lange prekär.»

Die Härte, mit der nun gegen die Demonstrationen vorgegangen wird, habe sie dennoch überrascht. Es sei wichtig, im Dialog zu bleiben und eine gute Vertrauensbasis zu haben. «Aber wegen dieser exzessiven Gewalt ist es an der Zeit, Klartext zu sprechen.»

Arslan spricht von einer falschen Toleranz. «Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir – nach allem was passiert – beim status quo bleiben.»

Sie spricht sich für die Übernahme von Sanktionen aus. Man sei an einem Punkt angelangt, an dem man selbst das Schutzmachtmandat hinterfragen müsse oder eine Sistierung in Erwägung ziehen solle.

Als Schweiz habe man auch Verpflichtungen gegenüber der eigenen humanitären Tradition: «Wir dürfen die Menschen nicht alleine lassen.»

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