Islamisten in Aufruhr – was tun?
Islamisten in Europa betreiben in sozialen Medien Polemik gegen den Westen. Vertreter der offiziellen Organisationen halten sich zurück. Doch wer sonst kann die Menschen, die sich oft nur in Filterblasen bewegen, noch erreichen?
Ein vertiefter Blick in einige Facebook-Gruppen in der Schweiz, Deutschland und Österreich liefert derzeit ein beunruhigendes Bild: Wenn der französische Präsident Emmanuel Macron dem radikalen Islamismus den Kampf ansagt, wird das umgedeutet zum «Krieg gegen den Islam und die Muslime» – verbunden mit einem Aufruf zum Boykott französischer Waren.
«Fakten werden verdreht, Täter zu Opfern»
Der deutsche Autor und Psychologe Ahmed Mansour – ein Experte für den radikalen Islamismus – warnt vor einer virtuellen Parallelgesellschaft. Denn das Internet bilde das ab, was die Menschen dächten und wie sie handelten. «Diesen polarisierenden Diskurs und der Vorwurf vom angeblichen Kampf des Westens gegen den Islam sehe ich sogar auf Facebookseiten von Migranten, die sich normalerweise mit Alltagsfragen wie Arbeit und Bildung in Deutschland beschäftigen», sagt er zu swissinfo.ch. Mansour ist Geschäftsführer einer Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention, die Präventions-Workshops durchführt. «Fakten werden verdreht und Täter werden zu Opfern», ergänzt Mansour seine Beobachtungen. Und dies «obwohl es um eine radikale Person geht, die etwas getan hat, das nicht zu entschuldigen ist: einem Menschen das Leben genommen».
In der Schweiz am polarisierenden Diskurs aktiv beteiligt ist der Islamische Zentralrat Schweiz (IZRS) mit 50’000 Followern auf Facebook. Die Organisation, geführt von Schweizer Konvertiten, teilt die Ansicht, dass die Strategie von Emanuel Macron im Kampf gegen den Islamismus ein Kampf gegen den Islam und die Muslime sei. Gar eine Diskussionsrunde darüber wurde organisiert.
Der IZRS habe in den letzten Jahren zwar an Strahlkraft verloren, sagt Hansjörg Schmid, Direktor des Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg. «Aber er ist in den sozialen Medien weiterhin stark präsent und schafft es, die Menschen dort anzusprechen.»
Anschwellende Geräusche
Lange war es um die Terror-Organisation IS ruhiger geworden. Dann kam Paris, dann Nizza, dann Dresden, dann Wien – begleitet von anschwellenden Geräuschen in den einschlägigen Echokammern der sozialen Medien. Peter Neumann, Direktor des International Center for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College, sagte kürzlich zu SRF, man könne auf den sozialen Medienkanälen der Dschihadisten richtig spüren, dass «eine Bewegung, die eigentlich sehr demoralisiert war, wieder angefeuert» wurde. Es sei, als ob diese Menschen ein Thema wiederentdeckt hätten – und dass dieses die Bewegung «quasi von Innen erneuert».
Auffällige Zurückhaltung
Auffällig bleibt, wie sich offizielle islamische Vereinigungen aus der Debatte heraushalten. Auf der FacebookseiteExterner Link der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich steht weder ein Wort zu den Anschlägen der jüngsten Zeit noch zu Boykott-Aufrufen.
Die Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS) teilte mit ihren 635 Facebook-Followern erst 12 Tage nach dem Mord am französischen Lehrer eine Stellungnahme, in der sie den «brutalen Anschlag aufs Schärfste» verurteilt und zum Gewaltverzicht aufruft. «Meinungsverschiedenheiten sollten nie mit Gewalt beantwortet und gerechtfertigt werden», heisst es dort. Gleichzeitig müsse aber auch das Recht der Meinungsfreiheit «mit Vernunft angewendet und nicht für Beleidigungen missbraucht werden», wird mit Bezug auf französische Karikaturen gemahnt. Erniedrigung, Verunglimpfung oder Verspottung hingegen «helfen dem Dialog nicht und verstärken die Polarisierung».
Warum versuchen gemässigte Organisationen nicht, den Diskurs mitzugestalten?
Nach wiederholter Anfrage sagen die FIDS-Verantwortlichen, sie hätten stets ihre Stimme erhoben und auf ihrer Webseite und auf dem Facebook-Account «drei klare Kommunikationen verbreitet».
Ermüdung und Überforderung
Hansjörg Schmid erklärt die Zurückhaltung der offiziellen islamischen Organisationen mit einer gewissen «Ermüdung oder Überforderung angesichts der ganzen Erwartungen, die auf ihnen lastet». Zudem hätten die Verantwortlichen oft auch Angst, von den Medien nicht richtig verstanden zu werden. Ebenso herrsche das Gefühl, man leide unter einem negativen Islambild in der Öffentlichkeit.
Dazu komme, dass sich in den Organisationen vielfach keine Medienprofis fänden und dass diese auch nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügten. Einige Gläubige wollten sich auch nicht in den Medien exponieren. Andere befürchten, ihre professionelle Existenz zu gefährden, wenn sie als Vertreter des Islam in Erscheinung treten würden, sagte Schmid.
Vor solcher Zurückhaltung der islamischen Institutionen warnt Ahmed Mansour. Sie führe letztlich dazu, dass es vor allem in der virtuellen Sphäre keine Gegenstimme gebe. Die Debatte werde von jenen geführt, die sich entweder mit dem Thema Islam und Extremismus beruflich beschäftigen oder von den Vertretern eines konservativen Islams.
Dialog, aber welchen?
Wo aber könnte ein Dialog überhaupt stattfinden? Wie Sinn machen? Mit wem geführt werden? Für Mansour ist die Rolle der Schule zentral. Dort würden «nicht Fächer vermittelt, sondern Werte» – und den Kindern werde die Debattierkultur auf den Weg gegeben.
Doch es brauche mehr. Mansour fordert auch einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, eine innerislamische Debatte, Aufklärungskampagnen in den Sozialen Medien und bessere Integrationsarbeit. Kritisch blickt er auf die Politik. Denn sobald man sich kritisch über den Integrationsprozess äussere, werde einem vorgeworfen, die Rechtsradikalen zu bedienen. «Diesen Diskurs müssen wir verlassen», sagt er. «Wir müssen begreifen, dass wir vor Herausforderungen stehen und die betreffen nicht nur Frankreich, sondern alle europäischen Länder».
Von einem interkulturellen Dialog erwartet SZIG-Direktor Professor Hansjörg Schmid. «dass sich alle Beteiligten Mühe geben». Minderheiten dürften sich nicht absondern, aber die Gesamtgesellschaft müsse auch ein klares Signal aussenden, dass die Muslime dazu gehörten, dass sie Bürger gleich wie andere auch seien seien und sich ihnen hier die Möglichkeit biete, sich ökonomisch und bildungsmässig zu entwickeln.
Zudem sei es im Sinne eines kulturellen Dialogs wichtig zu zeigen, was Freiheit bedeute und welch positive Errungenschaften diese Freiheit habe. Denn sie ermögliche auch Musliminnen und Muslimen, sich zu entfalten.
Für Mansour wie Schmid steht fest: Ziel muss sein, die Muslime für unsere Gesellschaft zu gewinnen.
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