Ist die Kritik an der Schweiz berechtigt?
Russische Oppositionelle kritisieren, die Schweiz verstecke sich hinter der Neutralität und gewähre Putins Vertrauten Schlupflöcher. Zwei Schweizer Aussenpolitiker nehmen Stellung.
In einer Interview-Serie mit swissinfo.ch äussern russische Oppositionelle harsche Kritik an der Schweiz: Putins Funktionäre und Oligarchen hätten Gelder in der Schweiz horten können, die Schweiz habe verwundeten ukrainischen Soldaten unter Berufung auf die Neutralität medizinische Hilfe verweigert und zur gleichen Zeit sanktionierte Güter nach Russland geliefert.
Auch müsse die Schweiz zusätzliche Massnahmen gegen Rohstoffhändler und Privatbanken ergreifen, damit die Sanktionen des Westens effektiv seien, und sie müsse genauer hinschauen bei Immobilien-Deals, weil russische Käufer Strohmänner einsetzten.
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Putins Gegner kritisieren die Schweiz
Auch Nationalrat Fabian Molina von der Sozialdemokratischen Partei (SP) teilt die Kritik der russischen Oppositionellen. Er findet, die Schweiz müsse alles daran setzen, um Putins illegalem und brutalem Krieg die Grundlage zu entziehen. Das bedeute zu allererst, dass der Krieg nicht über die Schweiz finanziert werden dürfe.
Molina sagt: «Genau deshalb fordere ich mit meiner Partei weiterhin eine Task-Force für die aktive Suche nach Oligarchen-Geldern, eigenständige und gezielte Sanktionen gegen die Verantwortlichen des Krieges, die bisher nicht auf einer EU-Liste stehen und eine pfefferscharfe Umsetzung der bestehenden Sanktionen.»
Die Aussagen in den Interviews seien alte Klischees über die Schweiz, widerspricht Franz Grüter, Nationalrat der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und Präsident der Aussenpolitischen Kommission. «Die Schweiz hat sämtliche Sanktionen der EU übernommen.» Und gerade bezüglich Rechtsstaatlichkeit habe sich die Schweiz hinter nichts zu verstecken.
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Welche Neutralität?
Dass sich die Schweiz hinter der Neutralität verstecke, will Grüter nicht bestätigen, im Gegenteil findet er: Die Schweiz habe ihre Neutralität zu seinem persönlichen Bedauern aufgegeben. So hätten es zumindest die internationale Presse und der US-Präsident explizit festgehalten.
Auch Russland hat das Angebot der Schweiz, ihre «Guten Dienste» einzusetzen und zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln, mit der Begründung abgelehnt, die Schweiz sei nicht mehr neutral. Die Ukraine und die Schweiz hatten sich bereits auf ein Schutzmachtmandat geeinigt, als aus Moskau ein Njet eintraf.
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hat den schweizerischen Bundespräsidenten Ignazio Cassis kürzlich bei einem Treffen am Rande der Uno-Generalversammlung in New York aufgefordert, wieder zu ihrer «Neutralitätspolitik» zurückzukehren.
Das wäre auch in Grüters Sinne: «Der Kleinstaat Schweiz könnte mit seiner neutralen Rolle und humanitären Tradition eine wichtige Rolle spielen bei der Übernahme eines Schutzmachtmandates oder irgendwann bei Friedensverhandlungen», sagt Grüter.
«Ich plädiere deshalb dafür, dass wir strikt an den Erfolgsfaktoren festhalten, die unserem Land während bald 200 Jahren Frieden gebracht haben.» Gemeint ist damit: Die Schweizer Neutralität wie sie war, bevor die Schweiz sich den europäischen Sanktionen anschloss.
Schweiz solle russische Opposition unterstützen
Laut Molina ist der Krieg gegen die Ukraine eine Zeitenwende für Europa. «Für die Schweiz bedeutet dies vor allem, dass sie ihr dreckiges Geschäftsmodell mit zweifelhaftem ausländischen Geld beenden muss. Dafür braucht es endlich ein wirksames Abwehrdispositiv gegen Geldwäscherei und ein Ende der ungerechten Steuerpolitik.»
Ausserdem müsse sie ihre Hilfe für die Opfer dieses Kriegs substantiell erhöhen und die russische Opposition aktiv unterstützen – auch im Asyl-Bereich.
Seit der Teil-Mobilmachung flüchten Zehntausende russische Männer ins Ausland. Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums führt dies zu einem Brain-Drain für Russland, denn unter den Flüchtenden sind viele Gutausgebildete und Intellektuelle, zum Teil auch Regimekritiker.
In der Schweiz haben sie als Deserteure nicht automatisch Anspruch auf Asyl. Aber das Staatssekretariat für Migration prüft laut eigenen Angaben «bei jedem Gesuch intensiv die Umstände des Einzelfalls».
Also ob der Kriegsdienstverweigerer nicht doch als Flüchtling gelten kann. Dies im Unterschied zu Ländern wie Polen, die baltischen Staaten oder Finnland, die russische Fahnenflüchtige an der Grenze abweisen.
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Haben russische Deserteure Anspruch auf Asyl?
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