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Die Neutralität der Schweiz – wohin des Weges?

Ist die Schweiz auf dem Weg in einen europäischen Sicherheitsverbund?

Soldaten
Offiziere der Schweizer Armee bei der Fahnenabgabe des Infateriebataillons 65 im Juni 2020 in Walenstadt. Das Bataillon beendete den Assistenzdienst im Rahmen der Coronavirus-Pandemie. Keystone / Gian Ehrenzeller

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges sind in der Schweiz Rufe nach einer stärkeren militärischen Kooperation laut geworden. Wie stark kann das kleine Land seine berühmte Neutralität verbiegen?

Europa rüstet wieder auf. Die Aggression Russlands und der Krieg in der Ukraine hat nach Wahrnehmung vieler Staaten die gesamteuropäische Sicherheitslage fundamental verändert. Auch in der Schweiz fordern bürgerliche Parteien und die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats deshalb mehr Mittel für die Armee.

Fabio Wasserfallen, Professor für Europäische Politik an der Universität Bern, hat kürzlich im Auftrag von Tamedia zusammen mit anderen Forschenden eine Umfrage durchgeführt. Der Ukraine-Krieg scheint die schweizerische Bevölkerung zwar zu beunruhigen, doch die meisten fühlen sich in der Schweiz einigermassen sicher. 45% finden, die Schweiz müsse aufrüsten, 41% halten das für unnötig, 8% wollen abrüsten und 6% sind unentschlossen.

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Der wirtschaftsnahe Thinktank Avenir Suisse sieht einen weiteren Lösungsansatz in einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO und dem europäischen Netzwerk PESCO. In einer kürzlich publizierten Studie zur Sicherheitspolitik Externer Linkfordern die Verfasser:innen, die Schweiz solle pragmatischer mit der Neutralität umgehen und stärker transnational kooperieren.

Die Schweiz kooperiert bereits mit der NATO im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und prüft aktuell die Teilnahme an einzelnen PESCO-Projekten. Mehr dazu im folgenden Artikel:

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Die Studienautor:innen orientieren sich dabei vor allem an Schweden und Finnland. Beide Länder haben sich von ihrer Neutralität distanziert und bezeichnen sich heute als «bündnisfrei». Seit der russischen Annexion der Krim rüsten Schweden und Finnland stark auf und intensivieren ihre Kooperationen mit der NATO.

Österreich und die Schweiz haben vieles gemeinsam: Beide Länder sind neutral und haben eine Milizarmee, sie liegen im Alpenraum mitten in Europa und sind auch hinsichtlich Grösse und Einwohnerzahl einigermassen vergleichbar.

Laut Avenir Suisse ist die österreichische Armee aufgrund von Sparmassnahmen jedoch wenig durchschlagskräftig und hat einen geringeren Stellenwert als in der Schweiz. «Österreichs Sparkurs ist nur möglich dank dem pragmatischen Umgang mit der Neutralität», schreiben die Studienautor:innen. Österreich kompensiere die eigenen Lücken mit einer starken transnationalen Kooperation und einer Ausrichtung auf die kollektive Sicherheit in Europa.

Julia Hofstetter, Präsidentin der Nichtregierungsorganisation Women In International Security (WIIS) SwitzerlandExterner Link, versteht das Bedürfnis nach mehr Sicherheit. «Gerade bei Ländern, die sich eine Grenze mit Russland teilen, ist auch der Wunsch nach mehr militärischer Sicherheit und einer engeren Zusammenarbeit mit der NATO verständlich.» Trotzdem sollte die Aufstockung nationaler Verteidigungsinvestitionen ihrer Meinung nach kritisch und unter Einbezug der Zivilgesellschaft diskutiert werden. «Es besteht die Gefahr, dass die momentane Stimmung für eine erneute Militarisierung und einen Rüstungswettlauf genutzt wird, was die Lage in Europa eher unberechenbarer als sicherer macht.»

Für europäische Länder, die sich keine Grenze mit Russland teilten und die nicht Teil eines Verteidigungsbündnisses wie der NATO seien, stünden ganz andere Bedrohungen im Vordergrund. «Für Länder wie die Schweiz stellt Russland eher eine Gefahr dar, wenn es um die politische Einflussnahme geht, um Desinformation oder Cyberangriffe», so Hofstetter.

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Laut Hofstetter könnte die Schweiz der komplexen Bedrohungslage schon in Zusammenarbeit mit der NATO und der EU begegnen, wenn es um den Erfahrungsaustausch und Kompetenzaufbau gehe. «Als Antwort auf den Ukrainekrieg dürften für NATO und PESCO aber die konventionelle Aufrüstung im Vordergrund stehen. Es stellt sich also die Frage, ob hier für die Schweiz nicht andere Akteure und multilaterale Foren wichtiger sind.»

Sie betont dabei auch, wie wichtig es ist, zivilgesellschaftliche Organisationen miteinzubeziehen, die ein breiteres Verständnis von Sicherheit hätten und stärker auf den Schutz der Menschen fokussierten.

Neutralität als Stolperstein

Eine verstärkte Militärkooperation könnte noch an etwas anderem scheitern: Der schweizerischen Neutralität. Diese geniesst in der Bevölkerung einen grossen Rückhalt. Gemäss der oben erwähnten Umfrage ist sie jedoch nur für eine Minderheit von 24% «nicht verhandelbar». Die meisten Befragten finden die Neutralität zwar sinnvoll, sehen aber einen gewissen Spielraum.

Laut den Studienautor:innen von Avenir Suisse sollte die Frage der Neutralität ehrlich auf den Tisch gelegt werden: «Die Neutralität findet erst dort ihre Grenzen, wo die Schweiz in internationale militärische Planungen involviert würde. Solange keine Beistandsverpflichtungen eingegangen werden, ist solch ein Vorgehen kompatibel mit dem Neutralitätsrecht.»

Schon vor Beginn des Ukraine-Krieges hat die Schweiz die Beschaffung von 36 Kampfflugzeugen des Typs F-35 beschlossen. Laut dem wirtschaftsnahen Think Tank Avenir Suisse könnte das Potenzial der neuen Kampfjets mit einer stärkeren transnationalen Kooperation voll ausgeschöpft werden, da der F-35 spezifisch für Angriffs-Einsätze in einem militärischen Verbund wie der NATO konzipiert worden sei.

Dank dieser Jets könnte der Luftraum gemeinsam verteidigt werden. Das sei sinnvoll, denn es sei plausibler, dass ein konventioneller Konflikt Europa als Kollektiv betreffen werde, als dass sich die Schweiz allein verteidigen müsste.

Flugzeug
© Keystone / Urs Flueeler

Auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister brachte die gemeinsame Verteidigung des Luftraums mit der EU kürzlich in einem InterviewExterner Link aufs Tapet: Auch die neutrale Schweiz könne mit ihren Kampfjets einen Beitrag zu Luftüberwachungsaufgaben im Verbund leisten.

Linke Parteien und die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sammeln unbeirrt weiter Unterschriften für eine Initiative gegen die Beschaffung der F-35. Laut GSoA macht die Beschaffung der Kampfjets militärpolitisch keinen Sinn und bringt keine zusätzliche Sicherheit: «Ein Angriff auf die Schweiz durch russische Bodentruppen ist ausgeschlossen», heisst es auf der WebsiteExterner Link. «Bevor der erste russische Soldat einen Fuss auf Schweizer Boden gesetzt hat, wäre ein Atomkrieg ausgebrochen, denn diverse Nato-Staaten wären zuvor angegriffen worden.» Gemäss einer Umfrage von Tamedia stösst die Initiative gegen die Beschaffung von Kampfjets jedoch bei 60% der Befragten auf Ablehnung.

Das sieht die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) anders. Auf Anfrage von swissinfo.ch teilt die SVP mit, dass solche Kooperationen ihrer Meinung nach der Neutralität klar zuwiderlaufen.

Die Partei plant eine Volksinitiative, mit der eine allumfassende Neutralität in die Verfassung geschrieben würde. Eine Kooperation mit NATO oder PESCO wäre somit vom Tisch.

«Die immerwährende bewaffnete Neutralität der Schweiz ist für unser Land seit über 200 Jahren ein Garant für Frieden und Sicherheit», schreibt Andrea Sommer vom Generalsekretariat der SVP Schweiz. Dass solche schlaumeierischen Diskussionen [über Militärkooperationen] geführt würden, zeige, dass das Neutralitätsrecht genauer zu definieren sei.

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Sogar Avenir Suisse räumt ein, es seien neutralitätspolitische Fragen zu klären, damit die Schweiz sich stärker in die kollektiven NATO-Strukturen einbinden könne.

Lieber PESCO als NATO

Laut dem Politologen Wasserfallen ist entscheidend, wie sich die internationalen Kooperationen in der NATO und der EU weiterentwickeln. «Die Zusammenarbeit im PESCO-Verbund wird intensiviert werden, was dann auch zu einem grösseren Kooperationspotential mit der Schweiz führen sollte.»

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ليا شاد

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Die Kooperation mit den europäischen Staaten dürfte laut Wasserfallen einfacher sein als diejenige mit der NATO. Zwar haben sich auch die Mitglieder von PESCO zum Ziel gesetzt, im Verteidigungsfall zusammenzuarbeiten, eine eigentliche Beistandspflicht wie bei der NATO gibt es aber (noch) nicht.

Auch die Studienautor:innen von Avenir Suisse schlussfolgern: Eine stärkere Kooperation mit der NATO wäre für die Schweiz militärstrategisch sinnvoller, eine mit der EU jedoch politisch realistischer. Auch in der oben erwähnten Umfrage befürwortet eine Mehrheit der Befragten die Beteiligung der Schweiz an PESCO, wohingegen zwei Drittel einen Beitritt zur NATO ablehnen.

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