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Ist die Schweiz zu langweilig?

La Nacion

Die sprichwörtliche Ruhe der Schweiz sorgt in Argentinien für Schlagzeilen. Die Bevölkerung des südamerikanischen Landes träumt von Schweizer Verhältnissen.  

Am Anfang stand ein dahingeworfener Satz der argentinischen Sicherheitsministerin Sabina Frederic. Sie musste sich rechtfertigen. Denn nach einem Raubüberfall mit zwei Toten in der Nähe der Hauptstadt Buenos Aires machten die grassierende Kriminalität und die prekären Verhältnisse in den argentinischen Gefängnissen Schlagzeilen, einmal mehr.

Also fragte eine Radio-Journalistin die Ministerin am 30. August, ob man denn schon auswandern müsse, um furchtlos zu leben. Ministerin Frederic antwortete: «Nein. Na gut, vielleicht in die Schweiz, mag sein. In der Schweiz ist es sicher viel ruhiger, das bestimmt.» Dann lachte die Ministerin und fügte an: «Aber auch langweiliger.»

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Sicherheitsministerin Sabina Frederic. La Nacion

Es war eine Pointe im falschen Moment, so begann das Rad zu drehen. Die Aussagen stiessen in Argentinien auf scharfe Kritik. Es gab Rücktrittsforderungen. Argentinien hatte eine nationale Debatte – und mittendrin: die Schweiz.

Würze in dieses Menu streute der Schweizer Botschafter Heinrich Schellenberg. Er reagierte auf Twitter, postete dort ein Werbevideo für den Schweizer Tourismus mit Tennisstar Roger Federer und US-Schauspieler Robert de Niro. «Die Langeweile von Federer», schrieb der Botschafter dazu. Die Botschaft des Videos: Die Schweiz ist zu unaufgeregt für Drama-Star Robert de Niro, also: ideal für Ferien ohne Drama.

Externer Inhalt

Die humorvolle Gelassenheit des Vertreters eines so langweiligen Landes kam in Argentinien prächtig an. Schellenbergs Tweet ging viral, wurde tausendfach geteilt und auch von argentinischen Medien aufgegriffen. Ein Kommentar unter vielen lautete: «Bravo, Herr Botschafter! Viele Argentinier würden das ‹No Drama› der Schweiz lieben. Alle haben eine Arbeit, alles funktioniert, man respektiert sich, alle können studieren, und es gibt die besten Verkehrsmittel, das alles wünschen wir uns aus der Schweiz.»

Nach den Äusserungen der Sicherheitsministerin befragten argentinische Medien zudem in der Schweiz lebende Landsleute. Auf die Frage von La Nación, was Langeweile denn für sie bedeute, antwortet die junge Argentinierin Micaela Lopez Nesci, die in Neuenburg lebt:  «Das wahre Leben ist, in Sicherheit leben zu können: Wenn ich einen Freund treffe und er mir erzählt, wie er seinen Urlaub verbracht hat, und nicht, wie einer seiner Verwandten letzte Woche ausgeraubt wurde. Wenn das langweilig ist, ziehe ich Langeweile vor.»

Und unter dem Titel: «Wie unterhaltsam wäre es doch, in einem langweiligen Land zu leben», zieht Autor Pablo Vaca in der Zeitung ClarínExterner Link Vergleiche zwischen der Schweiz und Argentinien:

Pro-Kopf Einkommen: 86000 Dollar zu 8400 Dollar in Argentinien.

Inflation: 0,7 Prozent in der Schweiz zu 51 Prozent in Argentinien.

Covid-Tote pro Million Einwohner: 1246 in der Schweiz, 2472 in Argentinien.

Jugendarbeitslosigkeit: 3,5 % zu 30 % in Argentinien.

Mordrate: 0,59 auf 100’000 Einwohner zu 5,36 in Argentinien.

Hohe Mordrate: Beerdigung eines 18-Jährigen Gewaltopfers in Rojas, Argentinien. Copyright 2021 The Associated Press. All Rights Reserved.

Dann kommt der Autor auch auf die direkte Demokratie zu sprechen. Vaca schreibt: «In diesem Jahr haben die Schweizer:innen beispielsweise bereits im März für ein Verbot der Vollverschleierung und ein Handelsabkommen mit Indonesien gestimmt; im Juni verabschiedeten sie ein Gesetz gegen den Terrorismus und lehnten eine Verringerung des Ausstosses von Treibhausgasen ab; im September werden sie für die gleichgeschlechtliche Ehe an die Urnen gehen. Langweilig scheint es nicht.»

Anzufügen bleibt: Auch die Schweizer:innen fühlen sich nicht wirklich sicher in ihrem Land. Zwar ist die Schweiz laut dem globalen Friedensindex das zehnt-sicherste Land der Welt. Das scheint die Schweizer Bevölkerung jedoch nicht zu beruhigen: Laut einer Umfrage Externer Link der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) aus dem Jahr 2018 glauben 61 Prozent der Befragten, dass die Kriminalität in der Schweiz in den letzten zehn Jahren zugenommen hat. 68 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Ausländer und Ausländerinnen immer mehr Straftaten begehen. Die Studie der Zürcher Forschenden zeigt aber auch, dass diese Ängste nur wenig mit persönlichen Erfahrungen zu tun haben.

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