Ist Betteln ein Menschenrecht?
Ein Bettelverbot im Kanton Waadt, das wegen einer Beschwerde vor Gericht noch nicht in Kraft getreten ist, wirft die Frage auf, ob ein solches Gesetz grundlegende Menschenrechte untergräbt.
Das Bettelverbot geht auf eine Initiative der Waadtländer Sektion der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) zurück. Im September 2016 hatte das Waadtländer Kantonsparlament dem SVP-Vorstoss zugestimmt. Die neue Bestimmung umfasst ein komplettes Bettelverbot im Kanton (nicht nur «aktives» Betteln, sondern auch nur am Boden zu sitzen, ohne konkret zu betteln wäre verboten).
Gegner der SVP-Vorlage hatten ein Referendum lanciert, schafften es aber nicht, die dazu nötigen Unterschriften zu sammeln. Und im Mai 2017 lehnte das Waadtländer Verfassungsgericht einen Antrag für die Aufhebung des Bettelverbots mit 4 gegen 1 Stimme ab. Der Fall wurde danach vor Bundesgericht weitergezogen, welches der Beschwerde nun aufschiebende Wirkung gewährte.
Die anhaltende Kontroverse im Kanton Waadt spiegelt jedoch eine viel breitere Debatte.
Ausbeutung?
«Wir sehen, dass die derzeitigen Regeln in Lausanne dem grössten Teil der Bevölkerung nicht genügen», erklärt Philippe Ducommun, SVP-Mitglied im Waadtländer Kantonsparlament und Polizeiinspektor in der Kantonshauptstadt Lausanne. «Das gilt auch für unsere Partei, wir sind der Ansicht, dass Betteln in unserem Land nicht länger hinnehmbar ist, und wollen gegen die Ausbeutung dieser marginalisierten und bettelnden Leute kämpfen.» Ducommon glaubt, dass Roma-Bettler von Netzwerken ausgenutzt werden, die von «menschlicher Not» profitieren.
Der Lausanner Anwalt Xavier Rubli, der die Beschwerde gegen das neue Gesetz vor Bundesgericht gebracht hat, bezeichnet das Bettelverbot als «ungerecht und skandalös». Und stellt die Frage: «Wenn wir das Betteln verbieten, was werden wir als nächstes verbieten?»
Falls das Gesetz in Kraft tritt, können Bettler mit einer Busse zwischen 50 und 100 Franken bestraft werden. Wer organisiertes Betteln betreibt oder Kinder zum Betteln schickt, dem droht eine Busse zwischen 500 und 2000 Franken. Werden die Bussen nicht bezahlt, kann auch eine Haftstrafe drohen.
«Gegen Grundrechte»
Der Rechtsanwalt Rubli reichte die Berufung im Namen von 12 Parteien ein. Zu seinen Mandanten gehören nicht nur bettelnde Schweizer und Roma, sondern auch Christen und Muslime, die ihr Recht auf Almosen als religiöse Pflicht verteidigen wollen.
Die Beschwerde wurde damit begründet, das neue Gesetz diskriminiere vor allem die Volksgruppe der Roma und verstosse gegen grundlegende Menschenrechte, die in der Waadtländer Verfassung, der Schweizer Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt seien, die auch von der Schweiz unterzeichnet wurde, erklärt Rubli.
Zu diesen Rechten gehören unter anderem die Achtung des Privatlebens und der Menschenwürde, Wirtschaftsfreiheit sowie das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung. «Bettler, die am Boden sitzen, übermitteln eine Botschaft», sagt Rubli. «Das mag Passanten stören oder irritieren, löst in ihren Köpfen aber auch eine Frage auf – und löst so eine Debatte aus.»
Ducommun ist der Ansicht, es sei «nicht sehr einladend, diese Bettler auf dem Boden sitzen zu sehen».
Bettler schützen
Gleichzeitig erklärt er, der Hauptgrund, das Betteln zu verbieten sei, die Leute zu schützen, die darauf reduziert würden, betteln zu müssen. «Sie haben das Recht, wem immer Sie wollen, etwas zu geben, es werden aber nicht diese Leute sein, die das Geld erhalten», erklärt er gegenüber swissinfo.ch. «Wenn man am Morgen diesen Zirkus am Place Place Bel-Air in Lausanne sieht, wenn all die Bettler ankommen und sich aufteilen, können Sie mich schlicht nicht dazu bringen, zu glauben, dass das Geld für diese Leute ist. Es ist für jene Leute, die sie kontrollieren und ausbeuten.»
Er räumt ein, dass es auch einige Schweizer Bettler gibt. Es gebe aber genügend Sozialstrukturen und Sozialhilfe in der Schweiz, um diesen zu helfen.
2008 hatte das Bundesgericht eine Beschwerde gegen das Genfer Gesetz gegen Betteln unter anderem mit den Argumenten abgelehnt, öffentliche Sicherheit und Ruhe sowie der Kinderschutz seien wichtiger als das Recht zu betteln. Rubli sagt jedoch, es sei nie bewiesen worden, dass Roma-Bettler von Netzwerken ausgebeutet würden. Und verweist auf einen ExpertenberichtExterner Link von 2012 zum Betteln von Roma im Kanton Waadt, der zum Schluss kam, dass das «Betteln nicht sehr organisiert» sei.
Rubli sagt weiter, dass es viele Gerichtsentscheide gegeben habe, vor allem in den USA und am österreichischen Verfassungsgerichtshof, in denen das Recht auf freie Meinungsäusserung als ein Grundrecht angesehen werde, das durch ein völliges Bettelverbot verletzt werde.
Zudem unterstreicht er, dass nicht nur Roma bettelten, sondern auch Schweizer und Schweizerinnen. Allerdings sind in Lausanne und auch anderswo tendenziell Roma, die meistens aus Rumänien kommen, beim Betteln zu sehen.
Roma im Visier?
Eine dieser Personen ist Petru, der in einem Bericht des Westschweizer Fernsehens RTS interviewt wurde. «Ich bin seit vier Jahren in der Schweiz, weil ich hier etwas Arbeit finden wollte», sagt Petru. «In Rumänien gibt es keine Arbeit, und es ist dort für uns wirklich hoffnungslos.»
Der Schweizer Fotograf Yves LerescheExterner Link kennt die meisten Roma-Familien in Lausanne und war schon oft in Rumänien, wo er Roma-Gemeinschaften fotografierte. Die Bilder, aufgenommen zwischen 2010-2015, wurden in einer Serie veröffentlicht: «Das unermüdliche Streben nach dem Paradies». Traditionell seien die Roma in Rumänien vor allem Handwerker und Händler gewesen, seien aber unter dem kommunistischen Regime wie andere zur Arbeit in Fabriken eingezogen worden, erklärt er.
Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes kam es zu einer Neuverteilung des Grundbesitzes und die Roma fanden sich ohne Land und ohne Arbeit wieder. Als Europa sich zu öffnen begann, kamen die Roma in andere europäische Länder, aber es ist hart für sie, dort Arbeit zu finden und zu behalten. Vor allem auch, weil viele Analphabeten sind und die Sprache des jeweiligen Landes nicht gut kennen. Und so fingen sie an, zu betteln.
«Der enorme Unterschied zwischen dem Lebensstandard in Rumänien und der Schweiz bedeutet, dass es für sie finanziell lohnend ist», sagt Leresche, selbst wenn sie Bussen zahlen müssten (z.B. weil sie im Freien schlafen, am falschen Ort betteln oder den öffentlichen Verkehr nutzen, ohne dafür zu bezahlen).
Unterschiedliches Ansätze
In der Schweiz sind Gesetze und Vorschriften im Zusammenhang mit dem Betteln je nach Kanton oder Gemeinde unterschiedlich. An einigen Orten wie etwa Zürich und Genf, ist Betteln bereits verboten, doch es bestehen auch Zweifel, ob formelle Verbote tatsächlich funktionieren. So gilt etwa in Genf seit 2008 ein Bettelverbot, aber es gibt immer noch Hunderte von Roma, die in den Strassen betteln.
Im Kanton Waadt haben viele Gemeinden ein Bettelverbot eingeführt. Die Stadt Lausanne hingegen setzt bisher darauf, das Betteln zu regulieren statt zu verbieten, und hat einen Mediator für den Kontakt zur Roma-Gemeinschaft, den pensionierten Polizisten Gilbert Glassey.
Die geltenden Bestimmungen sind in Artikel 87bis der Polizeiverordnung der Stadt Lausanne festgelegt. Verboten sind etwa organisiertes Betteln und das Einsetzen von Kindern zum Betteln, verboten ist auch Betteln, das aufdringlich ist oder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Und halten Bettler eine bestimmte Distanz zu Läden oder Orten, an denen Geldtransfers erfolgen, wie Geldautomaten, nicht ein, können Bussen verhängt werden. Glassey findet, dass die heute geltenden Bestimmungen funktionierten. Und die lokale Roma-Gemeinschaft habe «verstanden und akzeptiert», dass Kinder nicht betteln dürften.
Kontraproduktiv?
Die Stadtbehörden Lausannes teilen diese Ansicht: Vor einem Jahr erklärten sie in einem Schreiben an das Kantonsparlament, dass die 2012 eingeführten neuen polizeilichen Bestimmungen grundsätzlich funktionierten, und die Zahl der Beschwerden gesunken sei. In dem Schreiben heisst es auch, die Gemeinde sei «immer gegen ein völliges Bettelverbot in Lausanne gewesen». Ein solches Verbot würde zudem wie in Genf einen «hohen Verwaltungsaufwand für Beschwerden im Zusammenhang mit Betteln» verursachen und man würde, angesichts der Armut der Täter, auch die damit verfolgten Ziele nicht erreichen.
Falls das neue Gesetz in Kraft trete, werde dessen Umsetzung «kompliziert» sein, und «gewisse könnten es nicht verstehen», erklärt Glassey. Er denkt, der einzige Weg, Roma-Familien davon abzuhalten, in die Schweiz zu kommen, sei, sich dafür einzusetzen, ihnen an ihren Herkunftsorten zu helfen.
«Nicht aufgeben»
Wie auch immer der Entscheid des Bundesgerichts ausfallen wird, wahrscheinlich dürfte keine der beiden Seiten aufgeben. Rechtsanwalt Rubli glaubt, er habe eine gute Chance zu gewinnen. Und wenn nicht, werde er den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ziehen, sagt er.
Ducommun von der Schweizerischen Volkspartei zeigte sich ebenso entschlossen. «Wir werden das nicht fallen lassen», erklärt er gegenüber swissinfo.ch. «Denn die Unterschriften, die wir 2013 gesammelt haben, und der parlamentarische Entscheid sind eindeutig zu unseren Gunsten. Wir werden also nicht aufgeben, auch wenn das Bundesgericht gegen uns entscheiden sollte.»
Es ist nicht klar, wie lange es bis zum Entscheid des Bundesgerichts dauern wird. Bis dahin bleibt das Inkrafttreten des Gesetzes suspendiert – und die Debatte geht weiter.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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