Jetzt muss einfach ein bürgerlicheres Parlament die Probleme lösen
Die Bevölkerung in der Schweiz erwartet, dass das Parlament die Energiewende umsetzt und Lösungen für soziale Probleme findet, daran ändert der Rechtsruck vom Sonntag nichts, wie die Nachwahlumfrage der SRG zeigt.
Die rechtskonservative SVP hat am Sonntag das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte (27,9%). Sie setzte im Wahlkampf einmal mehr auf die Zuwanderung, mit Erfolg.
Migration ist das einflussreichste Thema, wenn es um die Wahl einer Partei geht, gleich vor den steigenden Krankenkassenprämien und dem Klimawandel. Dies zeigt die vom Sotomo-Institut durchgeführte Nachwahlanalyse.
Gemäss Umfrage hat die überwältigende Mehrheit der SVP-Wählerschaft (74%) der Partei ihre Stimme wegen ihrer Migrationspolitik gegeben.
Sie hat in dem Thema eine Art Monopol, so konnte keine andere Partei eine Mehrheit ihrer Anhängerschaft in dieser Frage überzeugen.
Die Unabhängigkeit und Souveränität des Landes, von der SVP ebenfalls lautstark vertreten, waren hingegen nur für 21% der Wähler:innen der rechtskonservativen Partei ein entscheidendes Argument.
Die Grünen waren die grossen Verlierer des Wahlsonntags und konnten nicht den gleichen Hype um die Klimapolitik erzeugen wie vor vier Jahren. Zwar wurde ihre Wählerschaft fast ausschliesslich von diesem Thema motiviert, aber auch andere Parteien profitierten davon.
Viele Menschen wählten auch die Sozialdemokratische Partei (SP) wegen ihres Programms zur Bekämpfung des Klimawandels. Die SP überzeugte ihre Wählerschaft zusätzlich in sozialen Themen wie Krankenkassenprämien oder soziale Sicherheit.
Mit ihrer Strategie gelang es der SVP, auch neue Wähler:innen zu gewinnen und zu mobilisieren, wie die Analyse nach der Wahl zeigt. Im Gegensatz dazu haben die Grünen einen Teil ihrer Wählerschaft an fast alle anderen Parteien verloren, mit Ausnahme der liberalen FDP. Mehr als die Hälfte der Verluste der Grünen Partei kamen der SP zugute, aber sie verlor auch ein wenig an die SVP, die Mitte und die Grünliberalen.
Die Nachwahlbefragung zu den Parlamentswahlen vom 22. Oktober 2023 wurde vom Forschungsinstitut Sotomo im Auftrag der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG, zu der auch swissinfo.ch gehört) durchgeführt. Die Daten wurden zwischen dem 21. Oktober und dem 23. Oktober erhoben. 23 207 Wähler:innen nahmen an der Umfrage teil, einerseits auf den Internetportalen der SRG, andererseits auf der Website von Sotomo. Die Fehlermarge beträgt +/- 1,2 Prozentpunkte.
Der Wokeismus-Effekt
Die Sotomo-Politolog:innen untersuchten auch die Gründe für einen Parteiwechsel. Resultat: Fast ein Drittel der Befragten war unzufrieden damit, wie ihre bisherige Partei mit den steigenden Krankenkassenprämien umgegangen ist. Dies kam vor allem der SP zugute, aber auch dem Zentrum.
Ein Viertel war mit der Migrationspolitik ihrer bisherigen Partei nicht einverstanden, wobei mehr als die Hälfte davon zur SVP wechselte.
Am häufigsten wurden die Gender- und Wokeismusdebatten als Auslöser für die Wahl einer anderen Partei genannt, ebenso wie die Polarisierung der politischen Debatten. Ein grosser Teil dieser Personen entschied sich daher, für die Mitte zu stimmen, wie die Umfrage zeigt.
Der Klimawandel ist nicht verschwunden
Das neue Parlament ist nun etwas weiter rechts und weniger grün. Trotzdem erwartet die Bevölkerung, dass es die Energiewende umsetzt. 46% der Wählerschaft sehen dies als Priorität an, wie das Sotomo Institut herausfand.
«Das Thema ist nicht mehr ausschliesslich den Grünen vorbehalten», sagt die Politologin Sarah Bütikofer von Sotomo.
Die Abstimmung über das Klimagesetz, das im Juni vom Volk angenommen wurde, habe gezeigt, dass alle Parteien erkennen, dass die Schweiz sich um die Energieversorgung kümmern und die notwendigen Veränderungen umsetzen müsse.
Sie erinnert daran, dass die Grünen vor Jahrzehnten als erste über die Energiewende gesprochen haben, ist aber der Meinung, dass ihre Position heute mehrheitsfähig ist. «Man muss also nicht mehr grün wählen, wenn man möchte, dass sich jemand im Parlament für dieses Thema einsetzt», analysiert die Politologin.
Krankenkassenprämien haben Priorität
Trotz des Rechtsrucks im Parlament sind auch die sozialen Forderungen nicht verschwunden. Priorität für die Wählerschaft hat ihr Portemonnaie: 66% der Wähler:innen sind der Meinung, dass die neu gewählte Legislative Lösungen finden muss, um den Kostenanstieg im Gesundheitskosten und bei den Krankenkassenprämien zu bremsen.
Die Wahlbevölkerung scheint dabei der Rechten eher zuzutrauen, diese sozialen Fragen zu lösen. Dies ist in den Augen von Sara Bütikofer nicht paradox.
Sie erinnert daran, dass die SVP weitgehend in Bevölkerungsgruppen mit niedrigeren Einkommen mobilisiert. «Nach der Verschärfung des Asylrechts ist dies im Übrigen die zweitwichtigste Priorität der Partei», betont sie.
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Editiert von Samuel Jaberg. Aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger.
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