Karin Stadelmann: «Wir haben ein systemisches Problem»
Die Parteien hätten in der Schweiz zu grossen Einfluss auf die Judikative: Das sagt Die Mitte-Politikerin Karin Stadelmann, die sich für die Justiz-Initiative einsetzt. Es sei Zeit, dass die Entscheide aufgrund fachlicher Qualifikation gefällt würden.
Die Justiz-Initiative will die Wahl der Richter:innen ins Bundesgericht entpolitisieren: Die Parteien hätten heute einen zu grossen Einfluss auf den Prozess, was hinsichtlich der Gewaltentrennung problematisch sei.
Karin Andrea Stadelmann engagiert sich im Initiativkomitee. Die Dozentin für Soziale Arbeit ist Präsidentin der CVP Stadt Luzern.
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swissinfo.ch: Frau Stadelmann, hat die Schweiz ein Problem mit ihrer Justiz?
Karin Stadelmann: Nicht direkt mit der Justiz und auch nicht mit den Bundesrichter:innen selbst. Sie machen eine sehr gute Arbeit und produzieren auch ausgewogene Urteile. Wir haben hingegen ein systemisches Problem, wie man in diesem Land zu den höchsten Richterposten gelangt. Die Justiz-Initiative wurde lanciert, um da den Fokus drauf zu richten.
Bei internationalen Rankings rangiert die Schweiz betreffend richterliche Unabhängigkeit stets sehr weit vorne. Das Problem kann also nicht so gross sein?
Da gibt es gegenteilige Auffassungen. Wenn man beispielsweise sieht, was die Greco kritisiert (die Staatengruppe gegen Korruption des Europarates, Anm. d. Red.), dann sieht es anders aus. Die politische Natur der Postenvergabe und die Beibehaltung der Mandatssteuer an die politischen Parteien verstösst gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.
Politische Beeinflussung gibt es auch anderswo. Kann die Initiative überhaupt eine komplette Entpolitisierung der Justiz einleiten, oder bleibt das ein frommer Wunsch?
Jeder Mensch hat eine politische Gesinnung und die soll er auch vertreten dürfen. Wenn er aber der Judikative angehört, dann muss er sicherlich unabhängig von der Politik agieren können. Und das wird eben am besten gewährleistet, wenn er es parteiunabhängig tun kann und nicht ein Parteibuch mit sich tragen muss.
Man dürfte ja bei Annahme der Justiz-Initiative weiterhin einer Partei angehören, das wäre nicht verboten. Es spricht von mir aus gesehen auch nichts dagegen, wenn man einmal aus eigener Überzeugung einer Partei beitrat. Aber man muss sich klarmachen, dass die Rechtsprechung besser akzeptiert würde, wenn die Leute wissen: Die Richter:innen die urteilen, gehören keiner Partei an und das Wahlsystem zur Ernennung als Bundesrichter:in ist unabhängig eines Parteibuchs möglich. Und darum geht es uns letztlich.
Ist es denn so heikel, wenn höchste Richterposten nach parteipolitischem Proporz verteilt werden? Damit werde immerhin das gesamte politische Spektrum abgebildet, sagen die Gegner:innen der Initiative.
Man kann es auch anders sehen: Im Moment ist mit diesem Parteienproporz nur die politische Gesinnung abgedeckt, andere Aspekte sind zweitrangig. Die überwiegende Mehrheit der Schweizer Stimmbevölkerung gehört keiner Partei an. Dieser Umstand wird im heutigen System nicht abgedeckt.
Gerichte entscheiden immer häufiger politische Fragen. Ist eine indirekte politische Absicherung – wie wir das heute haben – so nicht erst recht wünschenswert?
Es ist ja nicht so, dass Richter:innen bei jedem Fall gleich anhand politischer Kriterien entscheiden, dafür lassen sich die Fakten, die den Gerichtsfällen zugrunde liegen, nicht einfach verwenden.
Wenn es mal ein politisch besonders sensibles Thema gibt, dann ist es sicher gut, wenn unterschiedliche politische Gesinnungen bei der Beurteilung berücksichtigt werden. Aber eben: Die parteipolitisch unabhängige Ausrichtung fehlt heute. Und diese könnte je nach Sachlage genau so wertvoll sein.
Die Initiative schlägt auch ein Losverfahren vor, das kontrovers diskutiert wird. Kann das Los Diversität besser gewährleisten, als das Wahlgremium für die Bundesrichter:innen, die Gerichtskommission?
Es geht nicht einfach darum, mithilfe eines Loses aus einem Pott die gewünschte Anzahl Leute herauszufischen. Sondern aus einer Gruppe geeigneter und geprüfter Kandidat:innen, die eine eigens dafür eingesetzte Fachkommission ernennt, eine Auswahl zu treffen.
Aus anderen Bereichen weiss man: Sind die Rekrutierungs- und Auswahlprozesse objektiv ausgestaltet, dann bewerben sich einerseits mehr Leute und es gibt andererseits eine grössere Vielfalt unter ihnen. Die Geeigneten unter ihnen kommen dann in einen ausgewogenen Pott, wo das Los zum Zuge kommt. Es geht also darum, das Feld für die fähigen Kandidat:innen zu öffnen.
Die Gerichtskommission schlägt heute die Richter:innen vor, diese werden vom Parlament praktisch immer durchgewinkt. Damit haben die Kommissionmitglieder eine politische Rechenschaftspflicht – diese würde bei einem Losverfahren entfallen. Ist das nicht problematisch?
Nein, denn genau das entfällt ja dann. Es gäbe ja eben die Fachkommission, die die Vorschläge machen würde. Klar könnte sie mal jemand vorschlagen, die oder der vielleicht sich im Nachhinein als ungeeignet erweist, aber ich glaube nicht, dass das häufig der Fall ist. Es wird besser als es heute ist.
Und nochmals: Das Los garantiert eine breitere Teilnahme am Bewerbungsprozess. Die Fachkommission entscheidet unabhängig und legt Wert auf fachliche Qualifikation und nicht auf das Parteibuch.
Die von den Initiant:innen geforderte Fachkommission würde vom Bundesrat zusammengestellt, die Mitglieder hätten eine grosse Machtfülle, wären aber politisch deutlich weniger legitimiert als die heutigen Parlamentarier:innen in der Gerichtskommission. Ist das nicht bedenklich?
Weshalb sollte das bedenklich sein? Es geht ja ausdrücklich darum, dass sie ausgewählte Fachleute sind – aus der akademischen Welt, aus der Gerichtspraxis, aber auch HR-Fachleute – und eben nicht Politiker:innen.
Wie diese Kommission spezifisch ausgestaltet ist, und wie wir sicherstellen, dass neben den sprachlichen auch weitere Kriterien bei ihrer Zusammensetzung berücksichtigt werden, das muss dann im Nachgang im ordentlichen Gesetzgebungsweg geregelt werden.
So würde aber die Verantwortlichkeit von der Legislative auf die Exekutive übertragen. Das ist bezüglich Gewaltentrennung ja nicht weniger problematisch, nicht?
Durch den Auftrag ein Gremium von ausgewiesenen Fachexpert:innen zu ernennen, kann der Bundesrat ja nicht nach Belieben agieren. Auch nicht nach dem Belieben der Parteien.
Wenn die Regierung beispielsweise Berichte zur Evaluation eines neuen Gesetzes in Auftrag gibt, wendet sie sich ja auch an Menschen mit spezifischen Kompetenzen. Für mich müssen das zwingend Leute sein, die das Metier kennen, die sich mit Wahlprozessen oder Personalentscheiden befassen und nicht die Interessen von Parteien oder einzelnen Bundesräten vertreten.
Sollten auch Richter:innen selber in der Fachkommission vertreten sein?
Eher nicht. Natürlich sollen auch sie unverbindliche Empfehlungen abgeben können, das ist ja auch anderswo in Rekrutierungsprozessen normal. Aber es soll nicht ein Richtergremium sein, das sich selbst kooptiert.
Die Initiative sieht eine einmalige Wahl in die höchsten Richterposten vor, um einen Disziplinierungseffekt durch die Wiederwahl zu umgehen. Damit würden aber doch einzelne Personen deutlich mehr Macht erhalten – und ihre Wahl würde erst recht zu einem Politikum. Siehe den Supreme Court der USA.
Diese Wiederwahl alle sechs Jahre, wie sie heute stattfindet, ist hochproblematisch. Denn dadurch können die Parteien gehörigen Druck ausüben, wenn die Richter:innen mal Entscheide fällen, die ihnen nicht passen. Das haben wir im Fall von Bundesrichter Yves Donzallaz und der SVP gesehen.
Wenn nun die Wahl einmalig geschieht, und die Mandate bis zur Pensionierung ausgeübt werden können (laut Initiativtext bis «fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters», Anm. d. Red.), entfällt dieses Druckmittel automatisch. So wird der Vorgang eher entpolitisiert.
Eine weitere Eigenheit hat das Schweizer System, an der vor allem aus dem Ausland viel Kritik kommt: Die Mandatssteuern, die Richter:innen an ihre Parteien abgeben müssen. Nun will ein FDP-Vorstoss diese abschaffen. Begrüssen Sie diesen Schritt?
In unserem Initiativtext steht nichts dazu, denn mit der Abschaffung der faktisch zwingenden Parteizugehörigkeit erübrigt sich die Frage. Wenn nun ein Richter, eine Richterin weiterhin freiwillig in einer Partei ist, dann kann er oder sie Beiträge abgeben, wie das bei anderen Mitgliedern auch der Fall ist.
Mandatssteuern sind unter anderem ein wichtiges Einkommen für Parteien. Die Verbindung von Zuwendungen und Gegenleistung, ist im Zusammenhang mit der Justiz in Frage zu stellen. Ich traue den Parteien zu, dass sie Diversifikationsinstrumente bei der Beschaffung vom finanziellen Mitteln haben, da gilt es weitere Lösung finden.
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