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Politisch unabhängige Richter: Die Schweiz tastet sich vor

Bundesgericht
Bald ausserhalb der politischen Einflusssphäre? Das Schweizer Bundesgericht in Lausanne. © Keystone / Laurent Gillieron

Die Justizinitiative will das schweizerische Richterwesen umpflügen. Ihre Chancen an der Urne sind unklar. Dennoch wird sie Änderungen erreichen.

Die Schweiz will ihr Justizsystem nicht ändern – jedenfalls nicht ihre Politikerinnen und Politiker. Nachdem sich bereits der Bundesrat und der Nationalrat gegen die Justizinitiative ausgesprochen haben, tat dies auch der Ständerat. Das letzte Wort werden die Schweizer Stimmberechtigten haben, wenn die Initiative dereinst an die Urne kommt.

Dabei sind sich alle einig, dass die Initiative durchaus berechtigte Punkte aufnimmt. Die Debatten im Parlament verliefen quer durch alle Parteien nach einem ähnlichen Muster: Das System sei zwar nicht perfekt, aber es funktioniere gut. Und dennoch bestehe Optimierungspotenzial.

Es geht um die Entpolitisierung der Justiz: Bundesrichterinnen und Bundesrichter sollen nur aufgrund ihrer Qualifikation (und nicht aufgrund der Parteizugehörigkeit) gewählt werden können, per Los, von einem Expertengremium – und nicht mehr vom Parlament, wie das bisher der Fall ist. Zudem sollen sie nur noch einmalig gewählt werden und ihr Amt bis zum 70. Lebensjahr ausüben können. Flankierend würde die Möglichkeit eines Abberufungsverfahrens eingeführt. Dadurch soll gemäss dem Initiativ-Komitee die Unabhängigkeit der Justiz – und mit ihr die Gewaltenteilung – gewährleistet werden.

Trotz diversen Vorstössen – von Parlamentarierinnen und der Richtervereinigung – wurde auch kein Gegenvorschlag ausgearbeitet. Als besonders problematisch wird ein Punkt betrachtet: Richterposten im Bundesgericht per Losverfahren zu bestimmen. Dies wurde im Parlament verschiedentlich als «extrem» bezeichnet – und ohne Unterstützung von Parlament oder Regierung haben Volksbegehren deutlich geringere Chancen. Angesichts der Tatsache, dass 9 von 10 Initiativen in der Schweiz abgelehnt werden, sieht es für die Justizinitiative also im Moment nicht rosig aus.

Wie das jedoch häufig der Fall ist, konnten die Initianten bereits vor dem Urnengang Erfolge verbuchen. Denn im Parlament wurden Punkte der Initiative aufgegriffen. Diese werden zwar schon länger in der schweizerischen Politlandschaft diskutiert, dennoch ist es das Verdienst des Volksbegehrens, sie mit dem Druck der gesammelten 130’000 Stimmen ins Parlament eingebracht zu haben.

Komplizierte Ausgangslage

Offiziell müssen Richterinnen und Richter in der Schweiz nicht einer Partei angehören. Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass die neu zu besetzenden Stellen gemäss einem Parteienproporz verteilt werden, in einer Art informellen «Gentleman’s Agreement». Ohne Parteibüchlein ist man praktisch chancenlos – der letzte parteilose Richter wurde 1942 gewählt.

Dieser Umstand wurde in der Vergangenheit oftmals kritisiert. Einerseits, weil damit ein Postenschacher in Gang gesetzt werde, der hinsichtlich der Gewaltentrennung bedenklich sei und nicht die Qualifikation ins Zentrum setze. Andererseits weil so keine angemessene Vertretung aller gesellschaftlicher Strömungen in den Gerichten gewährleistet werde: Der Anteil der Parteimitglieder an der Stimmbevölkerung beträgt geschätzt 7% – genau weiss man das nicht, da keine einheitlichen Register geführt werden.

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Ein weiterer zentraler Kritikpunkt – der nicht nur Bundesrichter, sondern sämtliche Richter im Land betrifft – ist die Mandatssteuer. Damit ist eine Besonderheit im schweizerischen Justizsystem gemeint, die vorsieht, dass gewählte Richterinnen und Richter ihrer Partei einen finanziellen Betrag abzuliefern haben. Dieser variiert je nach Partei und politischer Ebene.

An dieser Mandatssteuer kam bereits internationale Kritik: Die GRECO, das Anti-Korruptions-Gremium des Europarats, rügte die SchweizExterner Link deswegen. Denn diese widerspreche dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.

Im Moment ist nun eine parlamentarische InitiativeExterner Link hängig, die die Mandatssteuern auf Ebene der Bundesgerichte unterbinden will. Auf Anfrage sagt der Urheber, FDP-Nationalrat Beat Walti, dass ihn das Thema schon länger beschäftige. Die eingereichte Justizinitiative habe nun eine Rolle dabei gespielt, es ins Parlament einzubringen.

Ebenfalls wird der Ständerat zu einem späteren Zeitpunkt diskutieren, ob die Gerichtskommission, die letztlich die Richterinnen und Richter auf Bundesebene wählt, zur Begleitung ihrer Auswahlverfahren einen FachbeiratExterner Link einsetzen und beiziehen soll. Damit werden schon zwei wesentliche Punkte der Initiative vor dem eigentlichen Urnengang im Parlament behandelt.

Überzeugender Einzelgänger

Die Justizinitiative geht auf den Unternehmer Adrian Gasser zurück. Dieser sieht die Sachlage naturgemäss dramatischer: Die Judikative werde als verlängerter Arm der Parteien wahrgenommen, die Gerichtsbarkeit werde verpolitisiert und das Vertrauen in die Institutionen letztlich unterhöhlt. Er habe darum die Initiative lanciert (und privat finanziert), um die Gewaltentrennung und eine unabhängige Gerichtsbarkeit zu unterstützen.

Die Justiz-Initiative ist das Kind des Unternehmers Adrian Gasser. Im Video-Interview erklärte er uns während der Unterschriftensammlung seine Motivation:

Gasser ist noch immer zuversichtlich, dass die Initiative beim Urnengang Chancen hat. Angesprochen auf die Änderungen, die das Vorhaben bereits jetzt angestossen hat, zeigt er sich zufrieden: «Ja, wir haben etwas bewegt.» Dennoch weiss er, dass die vorgenommenen Gesetzesanpassungen vor allem aus taktischen Gründen erfolgen, um die Chancen der Justizinitiative bei der Abstimmung zu schmälern. Doch der Abstimmungskampf sei erst vorbei, wenn das Vorhaben an die Urne komme.

Traditionalismus vs. Machtausbau

Der Jurist Alfio Russo stimmt diesem Urteil zu. Die Gerichte seien in der Schweiz zu stark politisiert. In seiner DissertationExterner Link hat er einen Rechtsvergleich mit anderen Staaten über die Richterwahl verfasst. Dabei kommt er zum Schluss, dass der politische Druck substanziell sei. Das hat auch mit einer weiteren schweizerischen Eigenheit zu tun: Der Wiederwahl.

In den meisten Staaten werden Richter der obersten Instanzen einmalig gewählt, meist für eine relativ lange Zeitdauer. Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind das beispielsweise 9 Jahre, in den USA auf Lebenszeit. In der Schweiz hingegen müssen sich Bundesrichterinnen und -richter alle sechs Jahre der Wiederwahl stellen. Da sie dabei auf die Stimmen ihrer Partei angewiesen sind, könnten Abhängigkeitsverhältnisse entstehen.

Russo verweist darüber hinaus auf das Losverfahren, das unüblich sei und das es in dieser Art heute nirgends gebe. In Frankreich durchlaufen Richterinnen und Richter eine spezifische Karrierelaufbahn, im angelsächsischen Raum seien es Fachkommissionen, die die Gremien ernennen. In der Schweiz hingegen sind es Politikerinnen und Politiker.

Historisch gibt es beim Los hingegen Referenzen: Im antiken Griechenland, in den mittelalterlichen italienischen Republiken oder auch in den Kantonen der alten Eidgenossenschaft. Dennoch sieht auch Russo die Richterwahl durch den Zufall eines Losentscheids als inkompatibel mit der heutigen Gerichtsbarkeit. Besser sei dafür ein geeignetes Wahlgremium.

Für ihn ist es vor allem ein Zeichen des Traditionalismus, dass Parteien und Parlament an den herrschenden Zuständen halten wollen. Dafür spreche, dass sich in der Frage kein links-rechts-Schema zeigt. Zudem werde das Primat der Politik als Garant der demokratischen Legitimation gesehen. Auch Russo kommt jedoch zum Schluss, dass die Justizinitiative trotz gewissen Mängel berechtigte Fragen aufwerfe.

Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich das System selber reformiert. Für Aufsehen erregte der kürzlich getroffene EntscheidExterner Link der Richterinnen und Richter im Kanton Jura, keine Mandatssteuern mehr zu entrichten. Die betroffenen Parteien zeigten sich verärgert, da auf der kantonalen Ebene die Mandatssteuern im Budget wichtig sind. Wie ein Vertreter der CVP sagte, müsse so auch «das Wahlsystem auf den Tisch». Denn es ginge nicht an, dass die Richterinnen und Richter keine Abgaben entrichteten, dann aber Unterstützung von den Parteien für die nächsten Wahlen forderten.

Können Richterinnen und Richter überhaupt objektiv sein? Ein Gespräch über die historische Entwicklung des Schweizer Justizwesens:

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