Justus Dahinden: Archäologe der Zukunft
Der Schweizer Architekt Justus Dahinden beklagte die seelische Mangelernährung in der funktionalistischen Moderne – und setzte auf eine Kombination aus uralten Formen und Utopie.
Justus Dahindens Vater war ein rebellischer Skilehrer: Er entwickelte in den 1970ern einen recht aggressiven Ski-Stil, den Mamba, der das bisherige Wedeln perfektionierte und auch radikalisierte.
Sein Sohn erbte den Wunsch nach prägnanten Formen, und auch er lebte sie erstmals an einem Berghang aus. Der erste Bau des Architekten Justus Dahinden steht an der Rigi, im Heimatort seines Vaters: eine Berghütte, stilistisch situiert irgendwo zwischen Hüttenzauber und dem schwebenden Auge Gottes.
Dahinden empfand das Bauen der Moderne als orientierungslos, ohne klare ästhetische Einstellung. Er suchte in der Architekturgeschichte nach Orientierung und fand sie in Urformen wie der Kuppel, der Kugel, dem Tor, aber auch der «schwebenden Schachtel» bei Le Corbusier.
Die Schräge
Insbesondere der rechte Winkel war für Dahinden unnatürlich. Er orientierte sich eher an steinzeitlichen Hügelbauten und prähistorischen Stufenpyramiden. Als schräg zum Himmel strebende Strukturen, die eine Begegnung mit dem Kosmos ermöglichten, nannte er sie «Kosmoformen». Sie schienen ihm dem Menschen gerechter zu werden:
«Durch das Kippen der (üblicherweise) senkrechten Fassaden in die Schräge vermindert sich die ‹Bedrohung› von Hochhaustürmen und ihren unbegrenzten Vertikalen für die Menschen, die darin wohnen.»
1970 liess er an der Zürcher Seepromenade eine Pyramide aus kontrolliert rostendem Cor-Ten-Stahl errichten, die viele genauso an einen Mayatempel erinnerte wie an eine Mondstation. Dahinter steckten aber auch pragmatische Vorstellungen: Pyramidenbauten warfen weniger Schatten und die Bauvorschriften in Zürich beispielsweise verlangten sogar eine Zurückversetzung höherer Stockwerke – Dahinden war nicht allein mit seiner Abneigung gegen Hochhäuser.
Er wusste dennoch, dass sein Bau nicht nur Beifall ernten würde. Während der Bauarbeiten wurde deswegen die Sicht versperrt – «und als es fertig war, konnte niemand mehr etwas machen», meinte er zur Architekturzeitschrift «Hochparterre».
Konsumtempel und Missionskirchen
Dahinden interessierte sich für die Kreation von Emotionen durch Architektur: Sei es im Fastfood Restaurant wie der Silberkugel, wo Menschen über Cheeseburgern zusammenfanden, dem Haute Cuisine-Tempel Tantris in München. Sein allererster Entwurf war nicht zufälligerweise ein Stadion für den Fussball-Club Zürich, FCZ, ein monumentales Oktogon, das aber an der Urne abgeschmettert wurde.
Eine seiner Pyramiden für die Freizeitgesellschaft hatte nur wenige Jahre Bestand: Schwabylon, ein Gebäude wie aus einem LSD-Trip in den 1970er-Jahren, in knalligem Orange, auf der Fassade eine riesige Sonne. Das Freizeitcenter enthielt eine Unterwasserdiskothek mit dem etwas erwartbaren Namen «Yellow Submarine», wo man im Aquarium eingesperrte Haie beobachten konnte, und eine Eislaufbahn.
Laut Dahinden sollte Schwabylon die «klassenlose Gesellschaft ansprechen» – doch der Ladenmix hatte wenig Erfolg, zu weit vor der Stadt war das Zentrum und zu teuer waren die Läden. Nur 14 Monate nach seiner Eröffnung musste Schwabylon schliessen.
Doch Dahinden interessierte sich nicht nur für Konsumtempel: Er hat etliche Kirchen gebaut – eine in seinem Wohnort Zürich-Witikon, aber auch auf anderen Kontinenten. Kirchen waren für ihn Gebäude, in denen die auffälligen Formen eine zentrale kultische Bedeutung erhielten. Die Form diente also der Funktion, aber ohne modernistische Knappheit. Die baulichen Symbole sollten, so Dahinden, die Menschen dazu einladen, die Gebäude zu benutzen.
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Seifenblasen aus Beton und Plastik
Dahinden wollte keine europäische «industrielle Exportarchitektur» machen, welche die kulturellen und symbolischen Gegebenheiten im Namen eines funktionalistischen Fortschritts ignorierte. Seine Bauten sollten sich einpassen in die baulichen und symbolischen Gegebenheiten der Orte, an denen er baute. Eine Architektur, die einseitig westliche Prinzipien importiere, erschwere die Suche der afrikanischen Kultur nach einer eigenen Identität.
Scheitern als Option
Dahinden war nicht nur Mitglied der Missions-Architekten, sondern auch Teil der Groupe International d’Architecture Prospective, die eine zukunftsfähige Architektur entwickeln wollte und dabei wenig Grenzen kannte. Zur «Groupe» gehörte auch der Schweizer Walter Jonas, der von riesigen Trichtergebäuden träumte.
Die Städte schienen im Boom der Nachkriegszeit an ihre Grenzen zu stossen, der Zukunftsglaube war aber noch ungebrochen. Die Utopie wurde für kurze Jahre eine realistische Planungsoption, schliesslich lebte man im Zeitalter der Raumfahrt.
Scheitern war für Dahinden stets eine Option – er meinte in einem Interview: «Ach, wissen Sie, solche Experimente scheitern nicht, sie erzeugen Wissen.» Auch seine verwirklichten Bauten fanden in den 1970er-Jahren nicht nur Anerkennung, Schwabylon wurde nach der Schliessung von einer Schweizer Versicherung gekauft. Die Utopie wurde abgerissen.
Seine Pyramide in Zürich wurde von vielen nur als «Rosthaufen» bezeichnet, das Restaurant Tantris in München als «Autobahnkapelle» verspottet. Heute stehen beide unter Denkmalschutz, weil sie den Geist einer Epoche des Aufbruchs konsequent verkörpern.
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