Kampf ums Altpapier setzt Papierfabriken zu
Altpapier ist längstens nicht mehr Abfall, sondern gefragter Rohstoff zur Herstellung von Zeitungen und Verpackungen. Steigende Preise führen zu einem wachsenden globalen Handel mit der Altware und bringen traditionsreiche Schweizer Papierfabriken in Bedrängnis.
Manchmal streiten sich die Parteien sogar vor Gericht, zum Beispiel ums Altpapier der Bundestadt. Im August musste das Verwaltungsgericht beurteilen, wer in Zukunft die 14’000 Tonnen erhalten soll, welche die Stadtbernerinnen und -berner jedes Jahr mehr oder weniger exakt gebündelt vor ihre Haustür stellen.
Den Zuschlag erhielt schliesslich die in St. Gallen ansässige Häusle Schweiz AG. Das Nachsehen haben zwei Berner Unternehmen, nämlich die örtliche Recycling-Firma Alpabern AG, die es seit 1985 einsammelt, und die 30 Kilometer entfernte Papierfabrik Utzenstorf, die es seit Jahrzehnten zu neuem Papier verarbeitet.
«Ausschlaggebend war der Preis», sagt Alain Probst, Mitglied der Geschäftsleitung des Utzenstorfer Traditionsunternehmens. Die St. Galler Firma hatte der Stadt Bern nämlich in ihrer Offerte mehr als 90 Franken pro Tonne Altpapier geboten, rund 10 Franken mehr als die Berner Konkurrenz.
Die Wiederverwertung von Altpapier und Altkarton für die Produktion von neuem Papier oder von Verpackungsmaterial hat in der Schweiz Tradition. Einige Papierfabriken gehören weltweit zu den Pionieren des Altpapier-Recyclings.
Wenn Altpapier wiederverwertet wird, bleibt mehr Holz im Wald zurück oder steht für andere Nutzungen zur Verfügung. Der Druck auf die Wälder reduziert sich.
Dank eines durchschnittlichen Altpapieranteils von 50 Prozent halbiert sich die Menge Holz, welche die Konsumenten in Form von Papier verbrauchen. Neues Zeitungsdruckpapier wird in gewissen Papierfabriken heute sogar bis zu 100 Prozent aus Altpapier hergestellt.
Gegenüber Primärfaserpapier spart Recyclingpapier aber auch bis zu 60 Prozent Energie und bis zu 70 Prozent Wasser und verursacht deutlich weniger CO2, weil sich die Abfall- und Emissionsmengen verringern lassen.
Sehr gefragt für die Wiederverwertung sind alte Zeitungen und Illustrierte, welche die Haushaltungen in Form verschnürter Bündel oder in Containern vor ihren Haustüren für die Wiederverwertung bereitstellen.
Jeder Schweizer sammelt jährlich 160 kg Altpapier. Mit einer Recyclingquote von 82 Prozent sind die Schweizer Weltmeister im Altpapier sammeln.
Fast die Hälfte der 1,5 Millionen Tonnen Altpapier und Altkarton, die in der Schweiz wiederverwertet werden, stammen aus privaten Haushalten.
In ganz Europa fallen jährlich rund 60 Millionen Tonnen Altpapier und Karton an.
(Quellen: Verein Recycling Papier + Karton, Bern; Forum Ökologie und Papier, Hamburg)
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Probst bedauert, dass immer mehr Gemeinden bei der Vergabe des Altpapiers ihrer Bürgerinnen und Bürger vor allem auf das Geld schauten, das ihnen dafür geboten werde, ohne zu fragen, wie weit es transportiert und was daraus werde.
Diese Kritik lässt Walter Matter, Leiter Entsorgung Recycling Bern und verantwortlich für das Stadtberner Altpapier, nicht gelten. «Wir hatten in der Ausschreibung als Zuschlagskriterium eine Entsorgung in der Schweiz verlangt.» Die St. Galler Firma habe versprochen, dass das Altpapier ins solothurnische Niedergösgen zur Aarepapier AG gebracht werde.
Der Sprecher der Aarepapier AG, die zur Model-Gruppe mit Sitz in Weinfelden gehört, kann aber nicht bestätigen, dass der Rohstoff aus der Bundesstadt zu 100 Prozent nach Niedergösgen geliefert werde. Das Solothurner Unternehmen stellt sogenanntes Wellpappen-Rohpapier für die Verpackungsindustrie her. Dafür bräuchte die Firma nicht unbedingt hochwertiges Altpapier. Aber weil sie den knapp gewordenen Rohstoff für die Sicherstellung der Produktionsmenge benötige, müsse sie sich auch mit teurem Altpapier eindecken, sagte der Sprecher.
Nach dem Gespräch mit swissinfo.ch teilte die Model-Gruppe mit, dass der Sprecher nicht zitiert werden dürfe.
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Einmal hin, einmal her
Altpapier hat sich in den letzten Jahren vom unerwünschten Abfallprodukt zum weltweit gefragten Rohstoff entwickelt. Der Grund dafür ist nicht nur die technische Entwicklung der Papiermaschinen, die ständig grössere Mengen in höherer Qualität produzieren, sondern vor allem die wachsende Nachfrage aus Ostasien.
China importiert allein rund 10 von insgesamt 60 Millionen Tonnen Altpapier, die jährlich in Europa anfallen. Die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt brauche den Rohstoff für die Herstellung von Verpackungsmaterial für Exportprodukte.
Die hohen Preise haben auch in der Schweiz dazu geführt, dass die «Altware» zum Teil durchs ganze Land und immer öfter auch ins Ausland befördert wird.
Bis vor wenigen Jahren haben Schülerinnen und Schüler oder Vereine in fast allen Gemeinden der Schweiz das Altpapier der Haushalte gesammelt und in die nächstgelegene Recycling-Anlage gebracht. Heute beauftragen immer mehr Gemeinden dafür professionelle Entsorgungsfirmen, die es – sofern nichts anderes vereinbart wird – dorthin bringen, wo es am besten rentiert.
Von den rund 1,5 Millionen Tonnen Altpapier, die in der Schweiz anfallen, wurden im letzten Jahr 0,5 MioTonnen exportiert, aber auch 0,3 MioTonnen importiert.
Millionenverluste
Unter der Knappheit des Rohstoffs leiden auch traditionsreiche Schweizer Papierfabriken. Der grösste Wiederverwerter von Altpapier in der Schweiz, die Perlen Papier AG im gleichnamigen Luzerner Dorf, hat 2012 einen Verlust von 24,8 Millionen Franken hinnehmen müssen. Verantwortlich dafür seien vor allem die Überkapazitäten auf dem europäischen Markt und die daraus resultierenden niedrigen Marktpreise für neues Papier, sagt Michel Segesser, Kommunikationschef der CPH-Gruppe (Chemie und Papier Holding AG), zu welcher die Perlen Papier AG gehört. Ein wichtiger Faktor sind aber auch die hohen Preise für den Rohstoff. «Das Altpapier, das wir aus dem Ausland importieren – knapp die Hälfte unseres Bedarfs –, ist fast doppelt so teuer wie jenes aus dem Inland.»
Obwohl die Perlen Papier AG auch im laufenden Geschäftsjahr mit einem ähnlich hohen Verlust rechnet, sei das Unternehmen für die Zukunft gewappnet. «Wir haben in Europa die modernste Produktionsanlage. Dank diesen Investitionen konnten wir unsere Kosten pro Tonne bereits stark senken. Diese enormen Investitionen stehen der Konkurrenz noch bevor.»
Und weil der Schweizer Marktführer im Unterschied zu anderen Produzenten in der Branche seine Produktionsmengen trotz Überkapazitäten auf dem europäischen Markt nach wie vor absetzen kann, blickt Michel Segesser optimistisch in die Zukunft. «Einige, vor allem grosse Konkurrenzbetriebe, bauen Kapazitäten ab und legen Anlagen still. Schon in diesem Jahr werden mehr als eine Million Tonnen vom Markt verschwinden.»
Auch in Utzenstorf spricht man von einer angespannten Situation. «Wir geben keine Zahlen bekannt», sagt Alain Probst, «aber 2013 ist für uns ein ganz schwieriges Jahr». Die Papierfabrik gehört europaweit zu den Pionieren des Papierrecyclings und ist in der Schweiz der grösste Abnehmer des Altpapiers, das in den Gemeinden gesammelt wird.
25 Prozent der rund 600’000 Tonnen, welche die Schweizer Haushaltungen jährlich vor ihren Häusern bereitstellen, werden nach Utzenstorf gebracht und dort zu neuem Papier verarbeitet. «Bisher konnten wir unseren Bedarf fast zu 100 Prozent mit Schweizer Ware decken. Aber wegen der Entscheidungen gewisser Gemeinden werden auch wir importieren müssen», bedauert Alain Probst.
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