Kasachstan: Schweizer Aussenpolitik im Zwiespalt
Das Beispiel Kasachstan zeigt: In den Schweizer Aussenbeziehungen kollidieren zuweilen wirtschaftliche Interessen mit dem Engagement für Demokratie und Menschenrechte.
Die Verfassung verpflichtet die Schweiz zur Demokratieförderung. Diesen Auftrag nimmt das Land ernst. Aber gerade in Staaten, die für die Wirtschaft von besonderer Bedeutung sind, gerät die Aussenpolitik gelegentlich in einen Zwiespalt. Einerseits sollte sie mit zweifelhaften Regimes über Demokratie und Menschenrechte reden. Andrerseits schliesst sie mit ihnen lukrative Verträge ab.
Das Risiko dabei ist ein veritabler Zielkonflikt: Die engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Schweiz, dem Musterland der Demokratie, können Diktatoren und Autokraten nicht nur der Bereicherung dienen. Sie legitimieren manchmal auch ihr Dasein.
Kasachstan in Zentralasien: Im zweitgrössten Nachfolgestaat der Sowjetunion leben knapp 19 Millionen Menschen. Zehntausende beteiligten sich Anfang Jahr an Protesten gegen die Regierung des Landes. Zur sozialen Explosion hat die ungleiche Verteilung der öffentlichen Güter geführt. Bei der Niederschlagung der Proteste verletzte die Regierung mit Unterstützung von Truppen aus anderen post-sowjetischen Staaten gemäss Beobachter:innen die Menschenrechte.
«Die Menschen sind der Lügen der Regierenden überdrüssig», sagt Gazinur Gizdatov, Professor an der Abylai Khan Kazakh University of International Relations zu SWI swissinfo.ch. Allerdings müsse sich erst noch zeigen, so Gizdatov, «ob ein Wandel in unserem Land doch noch möglich ist».
Zweifel sind berechtigt, denn die rohstoffreiche zentralasiatische Autokratie unter Staatspräsident Kassym-Jomart Tokajew hat nicht nur mächtige Verbündete im benachbarten Russland — sondern auch verlässliche Partner: etwa in der Schweiz.
So schreibt der schweizerische Wirtschaftsverband Economiesuisse: «Kasachstan ist für viele Schweizer Unternehmen das Tor zu Zentralasien. Das Land hat seine Marktzugangsbedingungen für ausländische Unternehmen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Zwischen 2005 und 2018 haben Schweizer Unternehmen 23,2 Milliarden Dollar in dieser ehemaligen Sowjetrepublik investiert.»
Schweiz drittgrösster Direktinvestor
Damit ist die Schweiz heute der drittgrösste Direktinvestor in Kasachstan, nach den Niederlanden und den USA. Die Schweizer Exporte nach Kasachstan stiegen allein 2018 um 16,2%. Ende November 2021 haben beide Staaten in Genf etliche Absichtserklärungen und Vorverträge unterzeichnet. Dazu gehören Projekte in den Bereichen nachhaltige Entwicklung, öffentlicher Verkehr, Strassenbau, Gentechnik, Arzneimittel, Finanzdienstleistungen, Tierhaltung oder Kunststoffe — das ganze Spektrum.
Unter anderen ist der Schweizer Bahnhersteller Stadler Rail an einer engen Zusammenarbeit mit der staatlichen kasachischen Eisenbahngesellschaft «Qasaqstan Temir Scholy» interessiert.
Umstrittene politische Bindungen
Parallel zu den wirtschaftlichen Beziehungen werden auch die bilateralen Bindungen zwischen den beiden Staaten gestärkt. So haben im letzten Jahr die Präsidenten der beiden Länder, Guy Parmelin und Tokayev, zwei Abkommen zur Entwicklung des Handels unterzeichnet.
Für Tokayev war es ein willkommener Auftritt auf internationalem Parkett. Nebst dem Geschäft redete man auch über so edle Themen wie ein Verbot von Streumunition, die Bekämpfung der Pandemie, über Afghanistan und die Wasserdiplomatie.
Der Schweiz ging es eher ums Geschäft: Das Land nimmt eine strategische Position zwischen Russland und China ein. Peking baut im Rahmen seiner globalen Initiative «Neue Seidenstrasse» Strassen, Eisenbahnlinien und Pipelines in Kasachstan. Und die kasachischen Behörden planen, einige ihrer Staatsunternehmen zu privatisieren. Schweizer Firmen wittern entsprechend Geschäfte.
Dabei ist man sich in Bern durchaus bewusst, dass es sich bei der Regierung in Kasachstan um ein autoritäres postsowjetisches Regime handelt, das —, wie soeben demonstriert, — kompromisslos und knüppelhart gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen imstande ist.
Heftig debattiert wurde in der Schweiz ab 2015 auch ein Vorfall um Kasachstan, der gar die Unabhängigkeit des Schweizer Parlamentsbetriebs infrage stellte. Es ging um einen Vorstoss der liberalen Parlamentarierin Christa Markwalder, der die Beziehungen der beiden Länder thematisierte.
Medienrecherchen brachten darauf an den Tag, dass die Regierung Kasachstan über eine international tätige PR-Agentur diesen Vorstoss bis hin zur Formulierung einzelner Passagen verantwortet hatte, ohne Wissen von Christa Markwalder, wie diese später versicherte. Die sogenannte Kasachstan-Affäre wurde zu einem Lehrbeispiel dafür, wie ein fremder Staat die Schweizer Politik zu beeinflussen suchte.
Weiteres Zeugnis der engen Verflechtung beider Staaten ist Vitol, einer der grössten Schweizer Konzerne. Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye sieht im Joint Venture Vitol Central Asia ein Konstrukt, das einerseits dazu dient, die Verbindungen des Konzerns zu Eliten in Kasachstan zu verbergen — und andrerseits lukrative Verträge zu erhalten.
Gemäss Public Eye-Recherchen ist Vitol Central Asia eine Tochtergesellschaft der Ingma Holding, einer in Rotterdam registrierten Firma mit gerade mal elf Mitarbeitern, die zwischen 2009 und 2016 unglaubliche 93,3 Milliarden Dollar umgesetzt hat.
Stabiler Courant normal
Das Schweizer Aussenministerium betont, Bern stehe in ständigem Kontakt mit den kasachischen Behörden und der dortigen Zivilgesellschaft zu Fragen der Demokratisierung und der Menschenrechte. Sie verfolge zudem aufmerksam die laufenden Prozesse gegen Mitglieder der kasachischen Opposition.
Auch Projekte von lokalen NGOs im Bereich der Meinungsfreiheit und der Migration würden unterstützt. Bei offiziellen Besuchen von Schweizer Delegationen würden Vertreter der Zivilgesellschaft in der Regel zu einem Runden Tisch über Demokratie und Menschenrechte eingeladen. Das klingt nach stabilem Courant normal.
Für den kasachischen Politologen Gaziz Abishev ist es eher unwahrscheinlich, dass Kasachstan durch die jüngsten Ereignisse gross an Attraktivität verlieren wird. «Die Diplomaten arbeiten, also sollte nichts Schlimmes zwischen Kasachstan und der Schweiz passieren», schätzt er die Lage ein.
Die Tatsache, dass Kasachstans Regierung dem Aufstand standgehalten habe, sei ein Beweis für die Beständigkeit des politischen Systems im Land. Die Schweiz und Kasachstan: «Auf beiden Seiten herrschen pragmatische Überlegungen», sagt Abishev.
Dieser Artikel wurde am 21.02.2022 geändert: Die Bezeichnung «Diktatur» für Kasachstan wurde in «Autokratie» geändert.
Dieser Artikel wurde am 1.3.2022 angepasst. Eine Information von Public Eye, die die Verbindung von Vitol Central Asia zu den Eliten in Kasachstan spezifizierte, liess sich nicht durch eine zweite Quelle bestätigen.
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