«Wie kann es sein, dass es im Spanien des 21. Jahrhunderts politische Gefangene gibt?»
Fast vier Jahre sass Jordi Cuixart i Navarro, Präsident von Òmnium Cultural und einer der führenden Köpfe der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, in Spanien im Gefängnis. Seinen Kampf für die Menschenrechte und ein unabhängiges Katalonien führt seine Organisation von der Schweiz aus.
Im Jahr 2017 wurde der Aktivist Jordi Cuixart i Navarro von der spanischen Justiz wegen «Volksverhetzung» zu einer neunjährigen Haftstrafe und einem absoluten Ämterverbot verurteilt. 2021 wurde er zusammen mit anderen Häftlingen begnadigt und konnte das Gefängnis verlassen.
Cuixart war vor kurzem in Genf, von wo aus er dafür lobbyiert, dass die Uno und europäische Gerichte in der Katalonien-Frage eingreifen. SWI swissinfo.ch hat mit ihm über die Situation in Katalonien gesprochen.
SWI swissinfo.ch: Wie fühlen Sie sich nach fast vier Jahren im Gefängnis?
Jordi Cuixart i Navarro: Im Gefängnis war es einfacher, mich vor Hass und Ressentiments zu schützen. Jetzt erst sehe ich, wie viel Schmerz es in Katalonien gibt.
«Wir organisieren unsere gesamte Menschenrechtsarbeit von der Schweiz aus.»
Für unsere Bewegung geht es jetzt darum herauszufinden, wie wir diesen Schmerz ohne Hass kanalisieren können. Und es geht darum, den spanischen Staat zu verstehen. Wir werden den spanischen Staat nie überwinden, wenn wir ihn nicht verstehen.
Was führt Sie in Ihrem Kampf in die Schweiz?
Wir organisieren unsere gesamte Menschenrechtsarbeit von der Schweiz aus. Wir wollen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg Spanien wegen Verletzung der Ausübung der Grundrechte verurteilt. Ich bin kein Politiker. Ich bin ein Aktivist. Unser Verständnis der Situation in Katalonien ist, dass das Demonstrations- und Versammlungsrecht und das Recht auf politische Meinungsäusserung verletzt wird. Ein Referendum ist weder in Katalonien noch in der Schweiz oder in Spanien ein Verbrechen.
Aber die Politik in Spanien will der politischen Dissidenz ein Ende setzen. Wir setzen uns nicht nur für den Schutz der Menschenrechte ein, sondern auch dafür, dass die vertriebenen Dissident:innen in ihr Land zurückkehren können. Wir zählen heute zehn Exilant:innen, darunter Sänger:innen, Künstler:innen und Politiker:innen. Zwei befinden sich in der Schweiz. Es sind Menschen, die überall auf der Welt frei sind, ausser in Spanien. Das ergibt keinen Sinn.
Welche Wege werden Sie vor Gericht beschreiten?
Uns liegt bereits ein Beschluss der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung vor, in dem der spanische Staat aufgefordert wird, alle Betroffenen freizulassen. Der spanische Staat hat uns begnadigt, weil er dem Druck nicht mehr standhalten konnten. Das erste, was ich tat, als ich aus dem Gefängnis kam, war, an einer Demonstration teilzunehmen. Das nicht zu tun, hiesse zuzugeben, dass ich ein Verbrechen begangen habe.
Der Staat versucht, die Begnadigung zu nutzen, um zu sagen, dass der Konflikt beendet ist. Aber das ist er nicht. Es geht um die Frage, wie es sein kann, dass es im 21. Jahrhundert in Spanien politische Gefangene geben kann.
Eine weitere Front haben wir im Europarat offen. Tatsächlich wurde ich dort als «einziger in Westeuropa inhaftierter Menschenrechtsaktivist» bezeichnet. Und wir haben eine diplomatische Front, mit internationalen Organisationen, die sich gegen die Inhaftierung ausgesprochen haben.
In den nächsten Jahren wollen wir von unserem Büro in Brüssel die öffentliche Meinung in Europa beeinflussen.
Wie stellen Sie sich das vor?
Der Konflikt in Katalonien ist ein europäischer Konflikt, es geht um Menschenrechte und Demokratie. Wir sehen die gleichen Entwicklungen in Polen und Ungarn. Die Judikative wird als politische Macht missbraucht. Sie legt die Gesetze nicht länger aus, sondern macht das Gesetz. Die Verteidigung der Demokratie in Barcelona ist die Verteidigung der Demokratie in Genf oder Budapest. Unser Anliegen ist kollektiver, als es scheint.
Welchen Kontakt haben Sie heute mit der Schweizer Regierung?
Wir sind immer sehr diskret. Der Verein Òmnium Cultural hat zum Ziel, die katalanische Kultur, Sprache und Selbstbestimmung zu fördern. Wir wollen, dass die Grundrechte in Katalonien eingehalten werden. Das ist, wofür wir kämpfen, und wir sprechen mit allen Personen und Regierungen, die mit uns sprechen wollen.
In den letzten vier Jahren haben viele Regierungen grosses Interesse an der katalanischen Frage gezeigt. Nicht öffentlich zwar. Aber unter vier Augen wollten sie alle über die Ereignisse sprechen. Wenn mehr als 2,5 Millionen Menschen trotz angedrohter Polizeigewalt an einer Abstimmung teilnehmen, in einem demokratischen Land in Europa – wenn auch mit zunehmend totalitären Elementen –, dann fragen sich viele: Was ist da los?
Kritiker:innen sagen, eine Abspaltung via Referendum verletze die Verfassung. Stellen Sie sich über die Verfassung?
Verfassungen sind keine heiligen Texte. Sie werden von Menschen gemacht. Vor 45 Jahren erhielt die spanische Verfassung in Katalonien höchste Zustimmung, heute zeigen Umfragen, dass mehr als die Hälfte der Katalan:innen gegen die Verfassung sind. Es ist etwas passiert, und was ist die Verantwortung der Politik? Auf die Stimme der Bürger:innen zu hören. Und was ist die Rolle von Aktivisten wie mir? Druck auf die Politiker:innen auszuüben, damit sie auf diese Stimme hören.
«Wir werden keine Gewalt anwenden.»
Wo setzen Sie eine Grenze in der Unabhängigkeitsbewegung?
Bei der Gewalt. Wir werden keine Gewalt anwenden. Der spanische Staat kann von sich nicht dasselbe behaupten.
Wir haben erkannt, dass wir die Unabhängigkeit mit demokratischen Mitteln erreichen müssen. Wir wollen die Unabhängigkeit, um in einer Demokratie zu leben. Spanien ist heute dabei, demokratische Elemente zu verlieren. In den 1980er-Jahren waren die Gesellschaft und der Staat offener als heute.
Wie meinen Sie das?
Das damalige Spanien respektierte die kulturelle Freiheit, die Plurinationalität, die Besonderheit eines jeden Volkes. Jetzt ist das nicht mehr der Fall. Ich lebe lieber in einem föderalsistischen Staat wie der Schweiz als in einem monolithischen.
Wo steht die Unabhängigkeitsbewegung heute im Vergleich zu vor vier Jahren?
Heute hat sie mehr Unterstützung als noch vor vier Jahren, sie steht unterdessen bei 56 %. Als ich im Gefängnis war, waren es noch etwa 46 %. Das Problem, das wir heute in Katalonien haben, ist ein Problem des sozialen Zusammenhalts und der Ungleichheit. Die Reichen werden immer reicher. Und es sind die Reichen, die sagen, dass es uns in Spanien sehr gut geht.
Inzwischen sind 25 % der Bevölkerung von sozialer Ausgrenzung bedroht. Und erzählen Sie mir nicht, dass es die Unabhängigkeitsbewegung ist, die die katalanische Gesellschaft spaltet. Das Problem ist die 40-prozentige Jugendarbeitslosigkeit. Die Politik müsste darauf Antworten geben. Aber es ist einfacher, über Spaltung zu sprechen.
Aber was ist mit der Gruppe der Katalanen, die keine Unabhängigkeit wollen? Es ist tatsächlich zu schwerwiegenden Verwerfungen in der Gesellschaft gekommen.
In Katalonien gibt es keinen ethnischen Konflikt. Es gibt Menschen, die für die eine oder andere Option stimmen, und nach vier Jahren wählen sie eine andere Option. Die meisten Menschen, die heute für die Unabhängigkeit stimmen, haben vor zehn Jahren noch dagegen votiert. Das nennt man Demokratie. Hier ist der einzige Gegner, den wir in der Gesellschaft haben, die extreme Rechte. Von Bedeutung ist auch die ideologische Vielfalt: Wir müssen zur Konfrontation von Ideen ohne Gewalt erzogen werden.
Welche Lösung sehen Sie denn jetzt für die Unabhängigkeitsfrage?
Ich bin für die Unabhängigkeit. Aber ich bin ein Verfechter des Rechts auf freie Entscheidung und des Rechts darauf, dass die Menschen ohne Drohungen und ohne Druck diskutieren können. Jede Option ist gut, solange es sich um eine selbstbestimmte Wahl handelt. Wir setzen uns dafür ein, dass von Seiten des spanischen Staates ein aufrichtiger Dialog geführt wird. Und das sehe ich heute nicht.
Und wenn es ein Referendum gibt und die Unabhängigkeitsbewegung verliert, werden Sie das Ergebnis akzeptieren?
Natürlich werden wir das. Und wir werden für ein weiteres Referendum kämpfen. Das ist in Schottland geschehen. Die Farben auf der Weltkarte sind keine Farben, die Gott gesetzt und über die er gesagt hat: Die bleiben so.
Warum sollte man in einer globalisierten Welt und in einem Europa, das seine Binnengrenzen öffnet, die Unabhängigkeit anstreben?
Wir haben Unabhängigkeit nie als Trennung verstanden. Sondern als eine Möglichkeit, am Konzert der Nationen der Welt teilzunehmen. Ich bin ein Internationalist und werde niemals auf die Brüderlichkeit zwischen den verschiedenen Völkern Spaniens verzichten.
Es ist die katalanische Gesellschaft, die dem spanischen Nationalismus die Stirn bietet. Wir sind die Opfer der extremen Rechten und der sozialen Rechten. Der Nationalismus ist in Spanien eine Tatsache. Es geht uns nicht um eine Unabhängigkeit, die bedeutet, allein in der Welt zu sein. Aber um eine Unabhängigkeit, in der wir besser geeint sind.
Marc Leutenegger
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