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Locarno Festival: Nirgendwo ist Afrika

Schwarzes Kind sitzt vor dem TV. Auf dem Bildschirm erscheint das Gesicht einer Frau mit blondem Haar.
Die kenianische Regisseurin Ng’endo Mukii kritisiert in ihrem Film "Yellow Fever" Praktiken, um vorherrschende westliche Schönheitsideale zu feiern und 'Blackness' zu unterdrücken. Yellow Fever

Filme aus dem subsaharischen Raum fehlten weitgehend am diesjährigen Locarno Festival, das letztmals unter der Ägide von Carlo Chatrian stattfand. swissinfo.ch versuchte, den blinden Fleck im Programm zu ergründen und sprach mit der einzigen schwarzen Filmemacherin, deren Kurzfilm in Locarno gezeigt wurde: Ng’endo Mukii aus Kenia.

Diversität, Gleichheit und verhältnismässige Repräsentation – diese Themen sind in aller Munde, auch am hiesigen Locarno Festival, das letzte Woche zu Ende ging. Feierlich bekannte man sich heuer zu einem ausgewogeneren Geschlechterverhältnis in der Auswahl von Filmmachenden. Mit einer einigermassen repräsentativen Auswahl an afrikanischen Filmen südlich des Maghreb happerte es allerdings.

Ng’endo Mukii aus Kenia
Die kenianische Filmemacherin Ng’endo Mukii. Yellow Fever

Ein, zugegeben, etwas gar trocken-statistischer Blick aufs Festival macht folgendes deutlich: In der Jury der 71. Festivalausgabe fand sich eine schwarze Jurorin aus den USA. An einer Diskussionsrunde zum Thema Online-Streaming Plattformen wurde das Thema sogar vom Publikum moniert: alle geladenen Gäste, ihres Zeichens CEOs, waren weisse Männer. Aber was am meisten irritierte, war die Afrika-Lücke im Programm. 

Ein einziger Langspielfilm war in der Sektion «Cineasti del Presente» zu finden. «Siyabonga» erzählt die Story eines jungen, schwarzen Township-Bewohners, der für seinen Traum kämpft: einmal in einem Film mitspielen zu können. Der südafrikanische Regisseur Josh Magor aber ist weiss. 

Innerhalb der Filmmakers Academy, einem grossangelegten und wertvollen Nachwuchsprogramm des Locarno Festivals, findet sich die einzige schwarze afrikanische Regisseurin, deren Kurzfilm «Yellow Fever» gezeigt wurde: die Kenianerin Ng’endo Mukii. Sie wurde durch das südafrikanische Realness Programm nach Locarno geschickt, einem Förderprogramm für junge Regisseure, die an ihrem ersten Langspielfilm schreiben.

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Das Spektrum an Formsprachen und weltweiten Filmen ist an diesem international beachteten Filmfestival so endlos wie das Programm vielfältig und gehaltvoll ist. Aber auch wenn die global dominante amerikanische als auch die geografisch nähere europäische Industrie über einen Platzvorteil verfügen: Locarno und sein scheidender künstlerischer Leiter Carlo Chatrian rühmen sich als «Festival der Entdeckungen» und als Zeichner einer «Landkarte des Weltkinos». 

Nach sechs Jahren verabschiedet sich mit Chatrian laut Tages-Anzeiger ein «Fürsprecher des asiatischen und amerikanischen Indie-Kinos». Aber: (fast) nirgendwo ist Afrika.

Kein Zeichen eines künstlerischen Mangels

Ng’endo Mukii erörterte im Gespräch mögliche Faktoren für diesen irritierenden Mangel an afrikanischen Stimmen. Erst einmal ist sie, die sich gewählt ausdrückt und überlegt, bevor sie antwortet, «ziemlich schockiert» über den blinden Fleck im Programm. 

Danach stellt sie klar, dass die fehlende Präsenz nicht als Zeichen von künstlerischem Qualitätsmangel interpretiert werden kann. Allein in ihrem Zuhause Nairobi bewege sie sich in einer aktiven und grossen Szene von «brillanten» und auch international bekannten Filmemachern mit Festivalpräsenz in Europa. 

Darunter ist beispielsweise Wanuri Kahiu, deren Film «Rafiki» diesen Frühling am Filmfestival Cannes lief. Einerseits ist laut Mukii eine kuratorische Bereitschaft notwendig, die sich investigativ einer Szene – oder in dem Fall dem Kontinent – annähern muss. 

Ein Beispiel dafür ist beispielsweise die Sektion «Pan-African Cinema Today» vom internationalen Film Festival Rotterdam (IFFR). Es zeigt Filme, organisiert Gespräche, Konzerte – sowohl in Rotterdam als auch in Zimbabwes Hauptstadt Harare. Sogar Retrospektiven stehen da im Programm. Angesichts der schlechten Konservierungsmöglichkeiten und fehlenden Cinematheken auf dem afrikanischen Kontinent ist das sehr verdienstvoll.

Critics Academy 

*Katja Zellweger (Schweiz) nahm an der diesjährigen Critics Academy teil, einer Initiative des Locarno Festivals mit 11 jungen Filmkritikerinnen und Kritikern aus der Schweiz und dem Ausland. Die ausgewählten jungen Leute waren beauftragt, Kritiken über die Filme des Programms und über begleitende Events, sowie Hintergrundbeiträge und Interviews mit Gästen zu machen. 

In diesem Jahr ist swissinfo.ch einer der Medienpartner der Akademie, gemeinsam mit Indiewire, FilmComment.com, Variety, MUBI, Filmbulletin, Filmexplorer und Cineman.ch.

«Kolonialistischer Mechanismus der Abhängigkeiten»

Mukii benennt als Problem andererseits eine gewisse Unkenntnis der Künstlerinnen und Künstler, was das westliche Festival System angeht. Die Festivals fungieren als internationale Plattformen für die Künstler und ihre Filme, und sie funktionieren beinahe wie ein Gütesiegel. Das System ist auch sehr wichtig, was den internationalen Vertrieb und Verkauf eines Films anbelangt. Denn fast alle Geldgeber kommen aus den USA und Europa. 

Laut Mukii gibt es in Kenia wenige nationale (und kontinentale) Finanzierungsmöglichkeiten, Mäzenatentum ebensowenig. Und wenn, dann seien diese an Rückzahlungsforderungen gekoppelt – sozusagen ein Ding der Unmöglichkeit. Die Finanzierung kommt grösstenteils aus der ersten Welt, und man befindet sich wieder mittendrin in einem kolonialistischen Mechanismus der Abhängigkeiten. Und somit mittendrin im Thema Mukiis, das nur ganz marginal, ausserhalb der elf offiziellen Sektionen vom Festival, zur Sprache gekommen ist.

Ihre mehrfach ausgezeichnete Dokumentaranimation «Yellow Fever» enthüllt in einer poetischen Weise, wie westliche Schönheitsideale auf Identitäten von Schwarzen einwirken.

Blonde Haare und helle Haut

Die Handlung dreht sich um ihre junge Nichte, die sich blonde Haare und hellere Haut «herbeizaubern» wollte. Mit dieser sogenannten Magie spielt das Mädchen auf die Tatsache an, dass viele Frauen und zunehmend auch Männer schädliche Aufhellungscrèmes aber auch Melanin-verändernde Tabletten einnehmen. 

Die Hautaufhellungen wie sie beispielsweise auch Popikone Rhianna vorgenommen hat, aber auch das Strecken von Kraushaar mittels starker chemischer Substanzen thematisiert Mukii. «Diese Praktiken werden genutzt, um vorherrschende westliche Schönheitsideale zu feiern und ‹Blackness› zu unterdrücken», so Mukii. Die Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Arbeit macht schliesslich auch einen weiteren relevanten Punkt deutlich: Innerhalb des schwarzen Identitätsdiskurses gibt es einen, laut Mukii «zweiten Imperialismus». 

Der afroamerikanische Diskurs über Schwarze Identität geniesse nämlich weltweite Deutungshoheit. Die ursprünglich afrikanische Perspektive bleibe dabei auf der Strecke. Sie, die mit britischem Akzent spricht, lokal geschneiderte Outfits aus afrikanischem Wachsstoff und kurzes, krauses Haar trägt, hat das selbst so erfahren. Während fünf Jahren wohnte sie in den Staaten und merkte immer wieder, wie ihr «Schwarz-Sein verstanden wurde, das Afrikanisch-Sein aber irritiert hat». 

Schade also, dass das Locarno Filmfestival mit der diesjährigen Programmwahl diese Dichotomie weiter bedient hat mit dem – wenn auch sehr starken, warnenden und politisch äusserst expliziten – Blockbuster «BlacKkKlansmen» von Spike Lee. Sie hätten es sich leisten können, Afrika cinéastisch nicht ins «Nirgendwo» zu verfrachten.

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