Zweifelhafte Steuerpraxis eines Modegiganten
Vor gut einer Woche beendete die Mailänder Finanzpolizei ihre Untersuchung des multinationalen Luxuskonzerns Kering, dem das Modehaus Gucci angehört. Es besteht der Verdacht, dass der Konzern zwischen 2011 und 2017 Steuergelder in der Höhe von 1,4 Milliarden Euro hinterzogen hat. Im Mittelpunkt dieser mutmasslichen Grosshinterziehung soll ein Tessiner Unternehmen mit schwindelerregenden Gewinnen stehen.
Wenn man davor steht, würde man nicht einen Franken darauf wetten. Doch tatsächlich scheint dieses rötliche Gebäude im Industriegebiet von Cadempino im südlichen Teil des Kantons Tessin eine regelrechte Geldfabrik zu sein: 2017 erzielte die Luxury Goods International (LGI), seit 1997 hier ansässig, einen Reingewinn von 1,7 Milliarden Franken.
Ein kolossales Ergebnis. Zum Vergleich: Die Swatch Group, die grösste Uhrenmarke der Welt, oder Adecco, der weltgrösste Temporärarbeit-Vermittler, erwirtschafteten weniger als die Hälfte der Gewinne der unauffälligen LGI.
Das Unternehmen in Cadempino gibt seine Ergebnisse nicht öffentlich bekannt. Seine Zahlen findet nur, wer die Dokumente des Handelsregisters von Luxemburg durchsucht. Denn im Grossherzogtum hat Kering Luxembourg SA ihren Sitz – jene Briefkastenfirma, die 100% der LGI kontrolliert.
In einer MitteilungExterner Link bestreitet die Kering-Gruppe die Schlussfolgerungen der italienischen Steuerbehörden «sowohl, was die Gründe, wie auch was die Beträge angeht».
Das multinationale Unternehmen bekundete sein Vertrauen in das Ergebnis des laufenden Verfahrens und erklärte, weiterhin in völliger Transparenz mit der italienischen Steuerverwaltung zusammenarbeiten zu wollen.
Während Jahren konnte die LGI allerdings verschwiegen ihrer Arbeit nachgehen. Natürlich wurde im Tessin viel über die Firma diskutiert, die alle noch «La Gucci» nennen. Doch ihre Bekanntheit blieb regional, beschränkt auf die Diskussion im Kanton über die Vor- und Nachteile des sogenannten Fashion Valley.
Offizielle Zahlen wurden nie bekanntgegeben, und die Behörden der Kantonshauptstadt Bellinzona beschränkten sich immer darauf, zu erklären, dass die LGI einen wesentlichen Beitrag zum Steueraufkommen leiste.
Am 25. Januar wurde jedoch von den italienischen Behörden eine Zahl genannt: 14,5 Milliarden Euro. So viel soll die Kering-Gruppe, Besitzerin von Gucci, in Italien nicht deklariert haben. Laut der Finanzpolizei soll der französische multinationale Konzern zwischen 2011 und 2017 Steuerbeträge im Umfang von 1,4 Milliarden Euro hinterzogen haben.
Im Zentrum dieser mutmasslichen grossen Steuerhinterziehung soll die LGI stehen – ein Unternehmen, das im Hintergrund bleiben wollte, nun aber ungewollt plötzlich ins internationale Rampenlicht gezerrt wurde.
Eine (künstliche) Profit-Fabrik
Die Firma liess sich als Gucci SA 1997 im Tessin nieder. Im Lauf der Jahre wuchs das Unternehmen und entwickelte sich schliesslich zum Dreh- und Angelpunkt des Steuerwesens von Kering. Im Prinzip ist LGI ein Verwaltungs- und Logistik-Unternehmen. 2014 weihte sie in Sant’Antonino das grösste Gebäude des Kantons ein: Auf 20’000 Quadratmetern werden jährlich fast 20 Millionen Kleidungsstücke eingelagert und weiterverteilt.
Aber neben den kontinuierlichen Zu- und Wegfahrten von Lastwagen ruft ein anderer Strom Erstaunen hervor: der Geldstrom. In den letzten zehn Jahren erwirtschaftete die LGI insgesamt rund 10 Milliarden Franken Gewinn. Wenn man diese Gewinne unter die Lupe nimmt, kann man eine beeindruckende Entwicklung sehen: 2007 waren es 390 Millionen Franken Gewinn, 2017 rekordhohe 1,7 Milliarden.
Zudem stieg auch der Prozentsatz des Anteils dieser Gewinne an jenen der gesamten Gruppe, und zwar erheblich: 2007 erwirtschaftete die Firma in Cadempino noch 27% der gesamten Gewinne von Kering; 2017 waren es um die 80%.
Die Nichtregierungs-Organisation Public Eye war die erste Organisation, die auf die unglaubliche Rentabilität der Tessiner Niederlassung aufmerksam machte. In einem Bericht von 2016Externer Link wies die damalige «Erklärung von Bern» darauf hin, die etwa 600 Tessiner Angestellten würden einen Grossteil der Gewinne eines Konzerns mit mehr als 30’000 Angestellten erwirtschaften.
«Dieses Missverhältnis zwischen erwirtschaftetem Gewinn und Anzahl Angestellten zeigt das Ausmass der vom Kering-Konzern im Tessin angewandten Steueroptimierungs-Methoden», hiess es im Bericht.
Woher kommen die enormen Gewinne, die LGI in ihrer Bilanz verbucht? Public Eye vermutet, dass die Gewinne des Konzerns künstlich in den Kanton Tessin übertragen werden, wo die Firma von einem besonderen Steuerstatus profitiert. Letztes Jahr deckten das französische Online-Investigativ-Journal Mediapart und die italienische Wochenzeitschrift l’Espresso auf, wie Kering mit den kantonalen Behörden einen Steuersatz von 8% verhandelt hat.
Und nicht nur das: Anhand von internen Dokumenten, die den beiden Redaktionen vorliegen, konnten sie detailliert zeigen, wie der Mechanismus der Steueroptimierung funktioniert. Das Modell ist einfach: Vom Tessin aus kauft LGI die in Italien und Frankreich entworfenen und hergestellten Produkte und verkauft sie, nachdem sie die Lager im Tessin durchlaufen haben, an Boutiquen auf der ganzen Welt weiter.
Ein grosser Teil der Gewinne wird mit der Differenz zwischen den Ankauf- und Verkaufspreisen realisiert und so, zusammen mit Einnahmen aus den Markenlizenzen, ins Tessin transferiert.
Das Ende einer Ära?
Für die Gemeinde Cadempino sind die kolossalen Steuereinnahmen der LGI jedes Jahr wie Manna vom Himmel: Sie spülen Millionen in die Gemeindekasse dieses unscheinbaren Dorfs am nördlichen Rand der Stadt Lugano. Die Gemeinde hat in den letzten Jahren eine Sporthalle, ein Konferenzgebäude, einen Parkplatz gebaut und kürzlich ein neues, grosses Rathaus eingeweiht.
Doch die goldenen Zeiten könnten bald vorbei sein. Letzten Oktober hat Kering angekündigt, in der luganesischen Gemeinde 150 Stellen zu streichen. Für die örtlichen Behörden war dies eine kalte Dusche: «Letzte Woche haben wir Informationen erhalten, welche die finanzielle Situation unserer Gemeinde radikal verändern werden. Die Einnahmen sind, wie Sie sehen können, drastisch gesunken», ist im Budget 2019 zu lesen.
Einige Monate zuvor zeigte ein von Mediapart veröffentlichtes Dokument, dass Kering ein Projekt namens Prometheus lanciert hat. Dessen Ziel soll sein, die «Architektur» des Finanzaufbaus um die LGI «neu zu definieren».
Auf internationalem Niveau verändern sich die Steuervorschriften. Die Eidgenossenschaft wird bald die besonderen Steuergesetze für multinationale Unternehmen abschaffen müssen. Die OECD-Staaten, darunter auch die Schweiz, haben das Beps-AbkommenExterner Link unterzeichnet, das darauf abzielt, die Gewinnverkürzung und -verlagerung auf globaler Ebene zu bekämpfen.
Die Party ist wohl bald zu Ende: Das multinationale Unternehmen scheint kurz davor zu stehen, seine Präsenz in der Schweiz herunterzufahren.
Fiktive Wohnsitze
Die Steuerarchitektur von Kering beschränkt sich nicht allein auf die Konzernstruktur. Wie Mediapart und l’Espresso schreiben, soll die Gruppe die Wohnsitze von etwa 20 Top-Managern fiktiv in die Schweiz übertragen haben. Diese arbeiten aber von Mailand aus.
Die italienischen Behörden interessieren sich besonders für die beiden wichtigsten Gucci-Manager, Marco Bizzarri und Patrizio Di Marco. In einem Durchsuchungsbeschluss gegen Bizzarri und Di Marco bezeichnen die italienischen Staatsanwälte die beiden Manager als «de facto Direktoren einer versteckten, auf Mailand zurückführbaren Betriebsstätte des Schweizer Unternehmens Luxury Goods International».
Beide Manager haben ihren Wohnsitz im Kanton Tessin, wo sie von einer Pauschalbesteuerung profitieren. Vor einem Jahr enthüllten die beiden Medien, wie Bizzarri von einer diskreten luxemburgischen Gesellschaft – Castera Srl – bezahlt wurde und dank der Tatsache, dass er (künstlich) in der Schweiz lebt, in Italien Millionen von Steuern sparen konnte.
Kürzlich deckten Medien auf, dass sich Di Marco nach demselben Schema bezahlen lässt und den gleichen fiktiven Wohnort angegeben hat. Er soll angeblich in einer kleinen Wohnung in Paradiso in der Nähe von Lugano wohnen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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