Klimawandel: Wie steht es um die internationale Solidarität?
Für die CO2-Emissionen sind in erster Linie die Industrieländer verantwortlich. Sie tun jedoch nicht genug, um den ärmsten Ländern – die am meisten von der globalen Erwärmung betroffen sind – bei der Bewältigung der Klimakrise zu helfen. Ein neuer Bericht kritisiert die Laxheit europäischer Länder, darunter auch der Schweiz.
Für Benjamin Vargas ist es eine Frage von Leben und Tod. Als wir ihn 2018 auf seinem Land im bolivianischen Tiquipaya trafen, machte uns der Bauer klar, wie wichtig ein nachhaltiger Umgang mit Wasser ist, das auch aufgrund des Klimawandels immer knapper wird. Dank eines Wasserbeckens, das in den Berghang gegraben wurde, können Vargas und andere Bauern in der Gegend Regenwasser sammeln und ihre Felder in der Trockenzeit bewässern.
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Das Projekt wurde mit Geldern aus der Schweiz finanziert und ist Teil der Hilfe, die der Bund für die durch den Klimawandel am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen leistet. Doch trotz des offensichtlichen Nutzens des Stausees für die bolivianischen Bauern: Die Massnahmen zum Klimaschutz in den ärmsten Regionen des Planeten sind noch weit entfernt davon, zu was sich die Schweiz und andere Industrieländer vor über zehn Jahren verpflichtet haben.
Der Verursacher zahlt
Auf der UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen haben die Industrienationen beschlossen, bis 2020 jährlich 100 Milliarden Dollar für die Finanzierung von Projekten bereitzustellen, um die Reduzierung von Treibhausgasemissionen und die Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungsländern voranzutreiben.
Es ist eine Frage der Solidarität; aber vor allem ist es auch eine der Verantwortung, die durch das Pariser Klimaabkommen geregelt wird: Die reichsten Nationen, die die meisten globalen Emissionen verursachen, haben die Pflicht, diejenigen Länder zu unterstützen, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben, aber unter den grössten Auswirkungen leiden.
Die jüngste Erhebung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass sich die Klimafinanzierung für Entwicklungsländer im Jahr 2018 auf 78,9 Mrd. US-Dollar belief: 62,2 Mrd. US-Dollar aus öffentlichen Mitteln und 14,6 Mrd. Dollar aus dem privaten Sektor (der Rest sind Exportkredite). Das war ein Anstieg von 11% gegenüber 2017.
Eine halbe Milliarde aus der Schweiz
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind die Hauptgeber der öffentlichen Klimafinanzierung. Die Vereinigten Staaten scheinen nach der Trump-Administration nun darauf bedacht zu sein, den Rückstand aufzuholen und ihre Beteiligung zu erhöhen.
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Die Schweiz steuerte 2018 ihrerseits 554 Millionen Dollar bei. Nach Angaben des Bundesamts für Umwelt (BAFU) wurde damit das von der Regierung gesetzte Ziel von 450 bis 600 Mio. Dollar erreicht. Bei der Berechnung des nationalen Anteils wurden die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Schweiz und die direkt vom Land verursachten Emissionen berücksichtigt, so das BAFU.
Von den 554 Millionen Dollar stammen 340 Millionen aus öffentlichen Mitteln – hauptsächlich aus dem Budget für die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Die privaten Investitionen (214 Mio.) wurden hauptsächlich durch multilaterale Entwicklungsbanken getätigt. Zum Vergleich: Die internationale Klimafinanzierung der Schweiz entspricht etwa einem Zehntel der öffentlichen Ausgaben für die nationale Sicherheit.
Wohin fliesst das Geld?
Asien war 2018 der grösste Empfänger von Klimafinanzierung (43%), gefolgt von Afrika (25%) und Amerika (17%). Die Länder, die die meiste Hilfe aus der Schweiz erhielten, waren Bolivien, Peru und Indonesien.
70% der im Jahr 2018 ausgeschütteten Mittel flossen in den Klimaschutz, etwa den Bau von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie. Anpassungsprojekte hingegen erhielten nur 20% der Mittel (die restlichen 10% gingen an Querschnittsprojekte).
Ein Ungleichgewicht, das von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen angeprangert wird. Demnach sollten die Finanzströme in Projekte umgeleitet werden, die es den am meisten gefährdeten Ländern ermöglichen, sich an die Folgen der globalen Erwärmung anzupassen. So zum Beispiel kleine Inselstaaten, die dringend Massnahmen benötigen, um sich vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen.
Es ist nicht die einzige Kritik an der Klimafinanzierung. Obwohl die Schweizer Behörden behaupten, dass «die Industrieländer auf dem besten Weg sind, das gemeinsame Ziel zu erreichen», heisst es von Seiten der ärmsten Länder der Welt und zivilgesellschaftlicher Organisationen das Geld reiche nicht – und mehr noch: die von den Geldgebern gemeldeten Zahlen seien übertrieben.
Der «faire Anteil» der Schweiz und Europas
Im Jahr 2019 belaufen sich die Klimagelder der EU und ihrer Mitgliedsländer auf insgesamt 27 Milliarden US-Dollar, so ein Mitte Januar veröffentlichter Bericht von ACT Alliance EU, einem Netzwerk von christlichen humanitären Organisationen. Der «faire Anteil» Europas sei jedoch 33 bis 36 Milliarden Dollar, meint der Verband.
Angesichts ihres Klima-Fussabdrucks im Ausland sollte die Schweiz ihren Beitrag ebenfalls auf eine Milliarde Dollar erhöhen, sagt Jürg Staudenmann von Alliance Sud, einer Arbeitsgemeinschaft, in der sechs grosse Schweizer Entwicklungsorganisationen zusammengeschlossen sind. Dies dürfe aber nicht auf Kosten der Armutsbekämpfung gehen, indem man Mittel aus dem Budget der Entwicklungszusammenarbeit abziehe, schreibt Staudenmann in einer Stellungnahme. Alles andere sei «zynisch» und schädlich.
Für den Klimaexperten ist es «besonders schockierend, dass die Schweiz die Forderung der UNO nach zusätzlichen Mitteln zur Unterstützung der Ärmsten im Kampf gegen die Klimakrise ignoriert.»
Kein Zusammenhang mit dem Klima
Viele NGOs, darunter auch die britische Oxfam, behaupten, dass der tatsächliche Wert der Klimafinanzierung überschätzt wird: Er betrage nur ein Drittel der von den Industrieländern angegebenen Summe. Für diese Diskrepanz gibt es zwei Hauptgründe.
Erstens gibt es Ungenauigkeiten oder Übertreibungen, wenn die klimarelevanten Komponenten eines Projekts berechnet werden. So werden z.B. bei einem Gebäude mit Photovoltaik die gesamten Baukosten angegeben und nicht nur die Kosten für die Solaranlage.
Ein aktueller Bericht von Care International zeigt, dass Japan hier besonders aktiv ist. Berichten zufolge hat das Land Projekte im Wert von über 1,3 Milliarden Dollar angemeldet, die nichts mit dem Klima zu tun haben. Dazu gehört der Bau einer Brücke und einer Autobahn in Vietnam. Drei von der Schweiz finanzierte Projekte hatten ebenfalls keinen erkennbaren Bezug zum Klimawandel, wie Alliance Sud auf der Grundlage einer deutschen Studie feststellte.
Zweitens werden nur 20% der Mittel in Form von Direktbeihilfen bereitgestellt. Die Industrieländer neigen dazu, immer mehr Kredite und andere Finanzinstrumente zu nutzen, prangert Oxfam an. Die Darlehen, die früher oder später zurückgezahlt werden müssen, seien manchmal zu Marktzinsen verzinst. Die Schweiz gehört neben Australien, den Niederlanden und Schweden zu den wenigen Gebern, die ihre Mittel fast ausschliesslich in Form von Zuschüssen vergeben.*
Wer ist am grosszügigsten?
Berücksichtigt man nur die direkte Hilfe (ohne Darlehen) und die wirtschaftliche Leistung, erhält man das, was nach Ansicht von ACT Alliance EU das tatsächliche Engagement der europäischen Länder zugunsten der Ärmsten darstellt.
Schweden ist das grosszügigste Land und zusammen mit Deutschland und Norwegen das einzige, das mehr als 0,1% seines Bruttonationaleinkommens für die Klimafinanzierung bereitstellt. Die Schweiz liegt an neunter Stelle mit einem Anteil von 0,048%.
100 Milliarden sind vielleicht nicht genug
Das System zur Berechnung der Klimafinanzierung wird auf der Tagesordnung der nächsten internationalen Klimakonferenz (COP26) stehen, die im November in Glasgow stattfinden wird. Nicht nur die Art und Weise, wie die von den Industrieländern bereitgestellten Mittel gezählt werden, sondern auch ihr Engagement auf globaler Ebene stehen dann zur Debatte.
Selbst wenn das Versprechen von 100 Milliarden Dollar pro Jahr eingehalten wird, reicht es möglicherweise nicht aus. Nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen könnten die jährlichen Kosten für Klimaanpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern bis 2030 auf 300 Milliarden Dollar steigen.
Von SWI swissinfo.ch kontaktiert, reagiert das Bundesamt für Umwelt auf die Kritik der NGOs. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der Antworten, die uns per E-Mail zugesandt wurden.
Die Schweiz erfüllt ihre Verpflichtungen zur Unterstützung der ärmsten und verletzlichsten Länder im Rahmen der Klimakonvention und des Pariser Abkommens. Der Pro-Kopf-Beitrag der Schweiz zum kollektiven Klimaziel ist deutlich höher als der der meisten europäischen Länder. Die Schweiz ist das einzige Land, das öffentlich und transparent offengelegt hat, wie es seinen Anteil an der globalen Klimafinanzierung berechnet hat.
Die Vorwürfe der NGOs, dass der tatsächliche Wert der Mittel nur ein Drittel dessen beträgt, was die Industrieländer angegeben haben, sind unbegründet. Die beteiligten Parteien haben ausdrücklich erklärt, dass die Unterstützungsbeiträge aus öffentlichen und privaten Quellen kommen müssen und dass alle Finanzierungsinstrumente genutzt werden müssen, d.h. nicht nur nicht rückzahlbare Beiträge, sondern auch Darlehen, Garantien usw. Subventionierte Kredite, die im Oxfam-Bericht ausgeklammert werden, und private Finanzmittel sind zentrale Instrumente, um die Klimabemühungen der ärmsten und verletzlichsten Länder wirksam zu unterstützen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Giannis Mavris)
* Am 17. Februar 2021 wurde der Hinweis auf die EU aus dem Satz entfernt, auf Empfehlung von Jan Kowalzig von Oxfam Deutschland, der sagte, es sei nicht korrekt zu sagen, dass die EU nur oder fast ausschliesslich Zuschüsse gewährt. «Im Jahr 2018 wurde mehr als die Hälfte der gemeldeten Klimafinanzierung in Form von Darlehen, Eigenkapital und zuschussfreien Instrumenten über die Europäische Investitionsbank bereitgestellt», schreibt er in einer -E-Mail an swissinfo.ch.
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