Den Bäumen rennt die Zeit davon
Die Temperaturen steigen für den Schweizer Wald zu schnell, befürchten Forscher. Forstingenieure des Bundes bereiten den Wald nun vor auf das Jahr 2080. Sie erwarten, dass das Klima in der Schweiz dann bis zu vier Grad wärmer sein wird.
Die Zeichen mehren sich. Der Klimawandel schreitet voran, es genügt ein Blick in den Wald. In der Region um Zürich war der Frühling 2017 zu warm und der Boden zu trocken für die Fichten mit ihren flachen Wurzeln. Davon profitierte der Buchdrucker, ein Borkenkäfer, der sich unter der Baumrinde wohl fühlt.
Normalerweise vertreibt ihn die Fichte, indem sie die Käfer in Harz ertränkt. Doch dafür braucht sie Flüssigkeit, und diese fehlte ihr dieses Jahr. Darum gab es aus den Wäldern um Zürich mehr Käferholz. So nennen die Förster die Fichten, die sie fällen, um die Verbreitung des Borkenkäfers zu stoppen.
Steigt die Temperatur, steht dem Käfer nicht nur ein üppiges Buffet zur Verfügung, er vermehrt sich auch besser – exponentiell besser. Statt einer oder zwei Generationen schafft er pro Sommer plötzlich drei. Das sind – als Rechenbeispiel – in einem warmen Jahr 3,2 Millionen Käfer, anstatt 160’000 in einem normalen oder 8000 Käfer in einem kalten Jahr.
Der Fichte wird es zu warm
Noch dominiert sie in tiefen und mittleren Lagen in der Schweiz das Waldbild, doch sie ist ein Auslaufmodell: Die Fichte dürfte sich im Tiefland längerfristig nur noch an einigen Standorten halten können, schätzen Schweizer Forstfachleute – und stellen sich nun die Frage, was nachher kommt. Sie planen den Wald der Zukunft, den Wald in 50 Jahren oder 100, wenn die Schweiz im Schnitt bis zu vier Grad wärmer sein wird.
Auffällig ist: Es sind nicht Öko-Fundis und Klima-Alarmisten», die sich mit diesem drastischen Szenario befassen. Es sind Wissenschaftler und Forstfachleute im Dienst der Eidgenossenschaft. Christian Küchli etwa, er arbeitet im Bundesamt für Umwelt (Bafu)Externer Link. Zehn Jahre lang war er mit seinen Kollegen mit dem Forschungsprogramm «Wald und Klimawandel» beschäftigt, beteiligt war auch die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und LandschaftExterner Link (WSL).
Das Projekt wurde von der Politik angeschoben, nachdem 1999 der Orkan Lothar und 2003 der Jahrhundert-Hitzesommer grobe Verheerungen im Forst verursacht hatten. Jetzt liegen die Resultate der StudieExterner Link vor. Es ist ein Buch, das auf über 400 Seiten nüchtern darstellt, was der Klimawandel im Schweizer Wald anrichtet und mit welchen Strategien die Schweiz dem bevorstehenden Desaster begegnen könnte.
„Bäume, die wir heute setzen, wachsen in ein völlig anderes Klima hinein.“
«Bäume, die wir heute setzen, wachsen in ein völlig anderes Klima hinein», sagt Küchli, der dem Leitungsgremium des Forschungsprogramms angehört. Mit eidgenössischer Akribie machte sich die Wissenschaft in über 40 Projekten daran, die Schweizer Wälder in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit zu erfassen: Hanglage, Mikroklima, Bodenbeschaffenheit – das alles wirkt sich aus, wenn die Temperaturen steigen.
Das Bafu rechnet bis 2080 mit einer Erwärmung in der Schweiz Externer Linkum 3,1 bis 4,3 Grad. Angesichts dessen ging es um Fragen wie diese: Was für Arten sollen gepflanzt werden, wenn Fichten und Buchen die Hitze nicht mehr ertragen? Und wenn die Vegetationszonen um bis zu 700 Meter weiter nach oben wandern, was wächst dann unten nach, in den tiefsten Lagen der Schweiz?
Die Schweiz begegnet dem Stressor Klima mit beinahe chirurgischer Präzision.
Während etwa Deutschland damit begonnen hat, kilometerweit mit südlichen Baumsorten aus Kroatien nachzuforsten, versucht die Schweiz, dem Stressor Klima mit beinahe chirurgischer Präzision zu begegnen. «Wir setzen nicht prioritär auf eingeführte andere Baumarten, sondern versuchen in einem ersten Schritt, die hiesige Pflanzen-Garnitur zu fördern», erklärt Küchli die Schweizer Strategie.
Das Spezielle dieses Plans ist auch: Die Forscher suchen nicht einfach nach einzelnen, robusteren Arten, sondern orientieren sich an den sogenannten Waldgesellschaften – das sind Verbände von Pflanzen. Sie untersuchen, wie sich diese unter verändertem Klima entwickeln. Dahinter steht die Überzeugung, dass naturnahe, artenreiche Wälder stärker aufgestellt sind, wenn nasse Winter, trockene Sommer und heisse Temperaturen über sie hinwegziehen.
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Wildnis ist der Wald schon längst nicht mehr
Es hilft zu wissen, dass der Wald in der Schweiz nicht das Produkt einer sich selbst überlassenen Natur ist. Seit Jahrhunderten greift der Mensch ein, um den Wald so zu gestalten, wie er ihm am besten dient.
In einem so dicht besiedelten Land wie der Schweiz zeigt sich der Wert des Waldes heute in vielerlei Hinsicht: Er filtert Trinkwasser, schützt vor Lawinen und Steinschlag, dämmt Lärm und Wind, liefert Holz und dient der Volksgesundheit. Allein der Erholungswert des Waldes beziffert eine Studie des BundesExterner Link mit bis zu vier Milliarden Franken pro Jahr.
Jetzt steht in der Schweiz die Rückkehr der Eiche an, sie kann Hitze, Stürmen und Trockenheit trotzen.
«Der Wald ist seit 7000 Jahren ein Ergebnis von Kulturtätigkeit», sagt Küchli. Der wichtigste Baum der Schweizer Forstwirtschaft, die heute so prägende Fichte, ist zwar ein natürliches Schweizer Urgewächs. Doch dass sie so verbreitet ist, auch dafür sorgte der Mensch, der sie vor gut 100 Jahren bevorzugt pflanzte.
Zuvor, im 19. Jahrhundert, hatten sich Berichte gemehrt, dass die damals weit verbreiteten Eichenwälder übernutzt und in schlechtem Zustand gewesen seien. Also pflanzte man Fichten, die auf den ausgemagerten Böden gut wuchsen.
Dabei waren bereits die Eichenwälder vom Mensch gemacht: Vor 1300 Jahren, mit der alemannischen Kolonisierung, wurde sie stark gefördert. Der Mensch schätzte das wetterfeste Eichenholz – und die Eicheln als bestes Schweinefutter. «Auf den Eichen wachsen die besten Schinken», sagten die Bauern, und trieben ihre Sauen im Herbst zum Fressen ins Gehölz.
Beobachtungen in Südfrankreich
Jetzt steht in der Schweiz die Rückkehr der Eiche an, sie kann Hitze, Stürmen und Trockenheit trotzen. «Von ihr wird der Wald in tieferen und mittleren Lagen künftig dominiert sein», prophezeit Küchli.
«Allerdings wissen wir nicht, wie weit wir mit der einheimischen Eiche kommen werden bis 2100. Darum schauen wir uns in Gebieten um, die heute das Klima haben, das dann zu erwarten ist.» Kürzlich reiste Küchli darum nach Frankreich, um Steineichenbestände zu inspizieren. Die Exkursion führte zum Mont Ventoux in Südfrankreich, 300 Kilometer südlich der Schweiz gelegen.
Während die Erderwärmung seit Beginn der Industrialisierung 0,8 Grad Celsius beträgt, wurde das Klima über der Schweiz als Folge der kontinentalen Lage um 1,7 Grad wärmer. Dabei versteht sich, dass es ein Schweizer Klima so nicht gibt. Für die verschiedenen Breiten- und Höhenlagen des Landes rechnet man darum mit unterschiedlichen Auswirkungen – und entsprechend unterschiedlich sehen die Empfehlungen der Forscher aus.
Ebenso wenig gibt es eine einheitliche Doktrin, die nun landesweit umgesetzt würde, denn die Schweizer Wälder unterteilen sich in zahllose Flächen und kennen viele Besitzer: Private, Gemeinden, Kantone und Ortsverbände. Der Bund befiehlt nicht – das untersagt die föderalistische Struktur des Landes. Er liefert nur das Wissen, damit die Waldverantwortlichen vor Ort ihre Wälder vorausschauend verjüngen können.
«Stürme, Trockenheit und biotische Kalamitäten können zu negativen Rückkoppelungen führen“, warnt Forstingenieur Küchli.
Doch alle Sorgfalt, welche die Schweiz dem Wald in dieser herausfordernden Zeit angedeihen lässt, liefert keine Garantien. Manche Pflanzen und Tiere finden in einem neuen Klima den Tod – manche aber auch ideale Bedingungen, um sich zu verbreiten. Viele Tierarten profitieren bereits von den milderen Wintern. Das Reh etwa vermehrt sich gut und knabbert an Weisstannen und EichenExterner Link.
«Dies sind aber ausgerechnet jene beiden Baumarten, die im Hinblick auf den Klimawandel am meisten Bedeutung haben», sagt Küchli. Können Wolf und Luchs den Rehbestand regulieren? Oder ist die Douglasie die richtige Antwort, ein gigantischer Nadelbaum, der Trockenheit bestens verträgt und kaum Schädlinge kennt? Der aber fremd ist?
Die Natur reagiert immer, langsam und auf ihre Art
Gewissheiten sind rar, wenn alles sich ändert. «Stürme, Trockenheit und biotische Kalamitäten können zu negativen Rückkoppelungen führen“, warnt Forstingenieur Küchli. Sturm Lothar hat 1999 Millionen von Bäumen gefällt, und viele stehengebliebene, aber geschwächte Bäume wurden zu einem Festfrass für den Borkenkäfer.
«Lothar war schlimm für die Waldbesitzer und die Waldwirtschaft», sagt Küchli, «für die Natur aber war der Sturm kein Problem.» Diese reagiert immer, langsam und auf ihre Art. «Der Klimawandel aber droht derart rasch zu sein, dass vieles gefährdet ist, was der Wald für die Schweiz leistet, wenn wir diesem nicht helfen, sich anzupassen.»
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