Konzerne während der Pandemie: «Renditegier soll sozialer Verantwortung weichen»
In der Krise zeigen Konzerne ihr wahres Gesicht. Viele wälzen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf ihre Angestellten ab. Besonders hart trifft es die Arbeitenden in den Zulieferfirmen im Ausland. Valter Sanches vom internationalen Gewerkschaftsverbund IndustriALL fordert, dass die Unternehmen mehr Verantwortung für die gesamte Lieferkette übernehmen.
Die Covid-19-Pandemie hat uns alle überrascht. Die Wirtschaft stand vielerorts still, Fabriken und Betriebe blieben leer. Für Gewerkschaften weltweit hatte der Schutz der Arbeitnehmenden höchste Priorität. Dank Lohnverhandlungen konnten Millionen von Angestellten zu Hause bleiben, wodurch sich die Ausbreitung des Virus verlangsamte und Leben gerettet wurden.
Die weltweite Stilllegung von Unternehmen war beispiellos. Die Welt hat sich dadurch verändert. Viele Menschen sind verantwortungsbewusster und sensibler geworden. Beispiele von Solidarität und Aufopferung haben uns alle bewegt.
Wir haben auch begriffen, dass wichtige Jobs, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, zu den am schlechtesten bezahlten und am wenigsten respektierten gehören. In dieser Krise haben viele den Wert von Supermarkt-, Transport- und Lieferarbeitern, von Gesundheitspersonal und Krankenhausreinigern kennen und schätzen gelernt. Es sind Arbeitnehmende, die nicht «Home office» machen können und den Risiken einer Infektion viel stärker ausgeliefert sind.
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Somit sind wir sind nicht alle gleich betroffen. Ja, wir sind alle mit demselben Sturm konfrontiert, aber einige befinden sich auf trockenem Land, andere auf seetüchtigen Booten, während wiederum andere sich verzweifelt an Trümmern festklammern. Die Einkommensunterschiede nehmen seit Jahren zu, und die Pandemie hat diesen Prozess beschleunigt. Frauen und «People of Colour» sind unverhältnismässig stark betroffen.
Reaktion auf Pandemie zeigt wahres Gesicht
Einige Politiker haben die Krise ignoriert und heruntergespielt oder sie für eigene politische Zwecke genutzt. Andere verbrannten politisches Kapital und trafen unpopuläre Abschottungsentscheidungen, um Leben zu retten. In Indien, den Philippinen, der Türkei, Brasilien, Indonesien und anderswo wurde die Pandemie als Gelegenheit genutzt, den Arbeitsschutz zu schwächen und die Menschenrechte ins Visier zu nehmen.
Es ist leicht, in einer Zeit des Wirtschaftswachstums Gutes zu tun. Doch in Krisenzeiten zeigen die Unternehmen ihr wahres Gesicht. Einige multinationale Konzerne nutzten ihre Macht und ihren Einfluss, um die Gesellschaft zu stärken und zusammenzuhalten; andere nutzten die Krise aus.
Am einen Ende des Spektrums stehen all jene Unternehmen, die staatliche Rettungspakete in Anspruch nahmen, Dividenden an die Aktionäre zahlten und die Pandemie als Vorwand benutzten, um Veränderungen durchzuboxen, mit denen sie in normalen Zeiten nicht durchkommen würden: Massenentlassungen, Lohnkürzungen, höhere Arbeitsbelastungen.
Am anderen Ende stehen die Unternehmen, welche die Verantwortung für ihre Lieferkette übernahmen und mit Zulieferern, Gewerkschaften und Regierungen Verträge ausarbeiteten, um die Dinge kurzfristig zusammenzuhalten und längerfristig nachhaltiger zu gestalten. So schüttete etwa der belgische Chemie-Multi Solvay keine Dividenden aus, und das Management kürzte sich den Lohn.
Die Notwendigkeit des sozialen Dialogs
Die meisten Unternehmen fallen irgendwo zwischen diese beiden Pole. Unsere Aufgabe als globale Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ist es, sie in die richtige Richtung zu bewegen, hin zu einem globalen sozialen Dialog.
Arbeiternehmende in der Textilindustrie, etwa in Bangladesch, Kambodscha und Vietnam, verloren ihre Existenzgrundlage, weil globale Modemarken sich weigerten, für die von ihnen erteilten Aufträge zu bezahlen. Viele Zulieferbetriebe standen vor dem Bankrott und entliessen Angestellte. Einige Marken verpflichteten sich, das Problem anzugehen. Trotzdem nutzten die Zulieferer die Pandemie in vielen Fällen als Vorwand, um Beschäftigten zu kündigen und Gewerkschaften zu zerschlagen.
In vielen Sektoren mussten die Angestellten als Erste die Kosten der Krise tragen. Eine Anhäufung von Arbeitsunfällen in Indien zeigte, dass die Arbeitgeber oft bereit sind, Leben zu opfern, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Vielerorts kam es zu Massenentlassungen.
Viele der schlimmsten Missbräuche geschahen in Entwicklungsländern, bei Unternehmen, von denen Kunden noch nie etwas gehört haben. Aber diese Unternehmen existieren nicht in einem Vakuum: Sie sind Teil globaler Lieferketten, die letztlich von internationalen Konzernen kontrolliert werden.
Ein Unternehmen, das sein Verhalten unter dem Druck von uns und den Gewerkschaften auf der ganzen Welt verändert hat, ist Inditex, der spanische Bekleidungsmulti, dem bekannte Marken wie Zara und Massimo Dutti gehören. Er reagierte auf die Krise bei den Zulieferern und verpflichtete sich, alle erteilten Aufträge zu erfüllen, einen laufenden Zahlungsplan zu garantieren und Finanzmittel bereitzustellen, um die Unternehmen am Leben zu erhalten. Inditex sorgte auch dafür, dass die Wiedereröffnung von Fabriken sicher über die Bühne gehen konnte.
Entscheidend ist, dass die Einhaltung solcher Verpflichtungen von einem globalen Gewerkschaftsausschuss überwacht wird, der alle Beschäftigten des Unternehmens vertritt, auch jene in den Zulieferbetrieben.
Kleine Schritte
Die Bekleidungsindustrie hat einzigartige Merkmale: Zum Beispiel reagieren verbraucherorientierte Marken sehr sensibel auf die öffentliche Meinung. Aber die Massnahmen, die dort angewandt werden können, um Interessengruppen mehr Einfluss zu geben, sollten auch in anderen Wirtschaftszweigen ergriffen werden.
Eine Branche, der besonderes Augenmerk gilt, ist der Bergbau. Allgemein erwirtschaften Bergbauunternehmen einen Grossteil ihres Gewinns in armen Ländern mit schwachen Arbeitsgesetzen und Sicherheitsstandards. Viele bevorzugen einen «hands-off»-Ansatz, bei dem lokale Tochterfirmen die Aufgabe haben, einen stetigen Warenfluss aufrechtzuerhalten und gleichzeitig alle Probleme vor Ort zu lösen.
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Sauberes Gold: Setzt die Schweiz neue Standards?
Im Bergwerk Antamina in Peru, einem Joint Venture, an dem nebst BHP auch Glencore mit Sitz in der Schweiz beteiligt ist, wurden zu Beginn der Pandemie Hunderte von Bergarbeitern mit Covid-19 infiziert. Wir versuchen seit Jahren, mit Rohstoffkonzernen in einen Dialog zu treten, wobei wir mit Glencore bereits einige Fortschritte erzielen konnten. Obwohl kein globales Abkommen existiert, hat ein informeller Streitbeilegungsmechanismus, der vor der Pandemie in Kraft getreten war, dazu beigetragen, die Probleme sowohl bei Antamina, als auch in Minen in der Demokratischen Republik Kongo, Sambia und anderswo anzugehen.
Weniger Glück hatten wir mit dem Rohstoffriesen BHP, der sich weigert, mit Gewerkschaften auf globaler Ebene zusammenzuarbeiten, und das Coronavirus als Vorwand benutzt hat, um Tarifverträge zu brechen.
Doppelstandards
In der Covid-19-Krise haben sich auch neue Dynamiken ergeben. So gibt es Unternehmen, die Angestellte je nach Standort unterschiedlich behandeln, sich also um solche in ihren Heimatländern kümmern, während sie diejenigen im Ausland ignorieren.
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Verantwortung von Konzernen, ein grosses Fragezeichen
Volkswagen unterhält allgemein gute Beziehungen zu den Gewerkschaften und verhandelt trotz einiger Spannungen in jüngster Zeit auf globaler Ebene. In Deutschland sorgte das Unternehmen für die sichere Wiedereröffnung von Automobilwerken, nachdem die Sperrmassnahmen gelockert worden waren.
In Südafrika jedoch stellte das Arbeitsministerium fest, dass der Konzern gegen die Vorschriften für die sichere Rückkehr an den Arbeitsplatz verstossen hatte, nachdem sich in einem Werk 120 Arbeiter mit Covid-19 infiziert hatten. Als die Beschäftigten von ihrem gesetzlichen Recht Gebrauch machten, unsichere Arbeit zu verweigern, suspendierte Volkswagen die gewerkschaftlichen Vertrauenspersonen. Das Problem wird nun vom Weltbetriebsrat gelöst. Das Beispiel zeigt, wo sich Risse in unserem vernetzten globalen System aufgetan haben.
Das Wirtschaftssystem verlangt von den Unternehmen, den Wert für die Aktionäre zu maximieren, was im Widerspruch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Gute und schlechte Unternehmen sind denselben Marktkräften unterworfen. Dies schafft ein moralisches Risiko, das schlechte Akteure mit einem Wettbewerbsvorteil belohnen kann. Letztlich kann dieses Problem nur durch verbindliche globale Standards gelöst werden, der einen Anstandskodex vorgibt, den alle erfüllen.
Zeit für Gerechtigkeit
Unsere Gewerkschaften glauben, dass es an der Zeit ist, einen gerechten Aufschwung zu schaffen, der diejenigen belohnt, die Opfer gebracht haben. Wir müssen jetzt die Grundlagen für eine bessere Zukunft schaffen. Wir brauchen ein globales Arbeitsbeziehungssystem des 21. Jahrhunderts, das die Abhängigkeiten untereinander anerkennt und fair regelt.
Wir müssen die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützen, die globale Ordnungspolitik ändern, um Beschäftigung und menschenwürdige Arbeit zu schaffen. Wir müssen für universellen sozialen Schutz und qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen eintreten, Demokratie und Arbeitnehmerrechte verteidigen, globale Lieferketten regulieren, eine nachhaltige Industriepolitik entwickeln und Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie sichern. Weiter muss der Kampf für die Gleichstellung und das Mitspracherecht der Beschäftigten weitergehen.
Deshalb ist sowohl die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz als auch ähnliche Vorstösse in anderen Ländern, welche die Einhaltung der Menschenrechte durch die Unternehmen sicherstellen sollen, wichtig. Zugleich müssen bereits bestehende Regeln stärker durchgesetzt werden, etwa die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation und verbindliche globale Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmervertretern und Unternehmen.
Lassen Sie uns diese Krise nicht verschwenden. Es ist an der Zeit, eine gerechtere und widerstandsfähigere Welt aufzubauen.
Valter Sanches ist Generalsekretär von IndustriALL, einem internationalen Gewerkschaftsverbund mit Sitz ist in Genf. Er vertritt weltweit 50 Millionen Arbeitnehmende in der verarbeitenden Industrie, im Bergbau und im Energiesektor.
Die im Artikel geäusserte Meinung ist jene des Autors und widerspiegelt nicht die Position von swissinfo.ch.
Christoph Kummer
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