Fünf Erkenntnisse aus dieser Abstimmung
Viele Schweizerinnen und Schweizer hegen gegenüber der Wirtschaft ein zunehmendes Unbehagen. Sie werden dieses in neuen Initiativen zum Ausdruck bringen. Und: Der guteidgenössische Anstand in der politischen Debatte ist gefährdet. Eine Analyse.
Der Kampf um die Konzernverantwortungs-Initiative ist ausgefochten. Wie er geführt und entschieden wurde, sagt etwas über die Schweiz aus. Fünf Erkenntnisse.
1. Die Schweiz agiert vorsichtig – es ist Krise
Die Konzernverantwortungs-Initiative hat das Schicksal der meisten Initiativen erlitten: Am Ende resultierte ein Nein. Auch wenn es knapp war. Auch wenn die Umfragen anders aussahen. Auch wenn es kein Volks-Nein war, sondern eines der Mehrheit der Kantone. Nachanalysen zu den Abstimmungen im September zeigten, dass die Pandemie das Schweizer Stimmvolk vorsichtig werden liess. Aus dem Ausland betrachtet wirkt die Schweiz mit ihren vollen Kassen – und bescheidenen Schulden – für Milliardenhilfen an die Wirtschaft zwar fürstlich ausgestattet.
Aber gerade die international herausragende Heftigkeit der zweiten Welle in der Schweiz macht klar, dass die Krise auch für dieses reiche Land umfassender ist und wohl zehrender wird als zunächst angenommen. Es gilt darum die alte Regel: In Krisen besinnt sich der Mensch auf das Vertraute – und das Schweizer Volk ist für Experimente kaum zu haben.
2. Die Schweiz hat Swing States – und sie werden zum Faktor
Die Schweiz weist viele Fragmentierungen auf. Es gibt den Röstigraben, den Stadt-Land-Graben und – etwa beim Jagdgesetz im September – auch einen Berg-Tal-Graben. Doch im Abstimmungskampf um die Konzernverantwortungs-Initiative wurde in Umfragen deutlich, dass man es mit einer differenzierteren Politgeografie zu tun hatte. Es gab sichere Ja-Kantone, sichere Nein-Kantone und eindeutige Wackelkantone. Politologen sprachen von Swing States. Das waren jene Kantone, die aufgrund des Schweizer Ständemehrs entscheidend werden konnten – vergleichbar mit den Elektorenstimmen in den USA.
Entsprechend konnten beide Kampagnen ihre Anstrengungen kurz vor der Abstimmung auf diese Wackelkantone fokussieren. Wie heftig dies geschah, haben Sie als Bürger oder Bürgerin im Ausland, nicht mitbekommen. Zu gezielt waren die Botschaften geografisch adressiert. Dass in der Schweiz so fein an einzelnen Stellschrauben gedreht wird, ist neu und eröffnet für die Zukunft in der Kampagnenführung eine neue Dimension.
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3. Neue Kampagnen-Formen – neue Tiefpunkte
Was sie als Bürgerinnen und Bürger im Ausland auch nicht mitbekommen haben, sind die neueren Formen von Politkampagnen, welche der Kampf um die Konzernverantwortungs-Initiative hervorgebracht hat. Es war der «wohl teuerste Abstimmungskampf aller Zeiten», wie Politologe Lukas Golder schätzt. Die Befürworter operierten im Makrobereich mit orangen Fahnen, die ganze Quartiere prägten. Im Mikrobereich setzten sie auf persönliche Netzwerke: Sie sorgten mit Emails und auf Social Media dafür, dass jeder einzelne Sympathisant auch seine Freunde und Familie aktivierte.
Ebenso aufwändig und neu agierten die Gegner. Sie stellten nicht nur den CEO von Glencore hin, um gegen die Initiative anzureden, sondern auch den Wirtschaftsminister von Burkina Faso und eine Ökonomin aus Kolumbien. Zugleich erschienen auf Social Media regional gezielt gestreute Videos, die mit irritierenden Zerrbildern humanitäre Organisationen diffamierten. Hier zeigte sich die Polarisierung in der Schweiz in einer neuen Dimension. Der guteidgenössische Anstand in der politischen Debatte hat Schaden genommen. Er ist gefährdet.
4. Das Unbehagen bleibt – und wird sich neu formulieren
In der Kriegsgeschäfte-Initiative wie in der Konzernverantwortungs-Initiative steckt derselbe Wunsch: Viele erwarten von der Wirtschaft in ihrem Land das Verhalten, das sie selbst bei ihren Einkäufen an den Tag legen. Dort haben Bio- und Fairtrade-Produkte seit Jahren enormen Zuwachs. Schweizer Konsumenten können sich dort Nachhaltigkeit und Fairtrade locker leisten – Nahrungsmittel beanspruchen nur 7 Prozent ihres Einkommens. Wie aber steht es um die Makroökonomie? Beim Finanzplatz Schweiz hat der Paradigmenwechsel von der Schwarzgeld- zur Weissgeldstrategie funktioniert.
Das nährt bei vielen die Zuversicht, dass neue Paradigmenwechsel ebenso erschwinglich wären und funktionieren könnten: Klimagerechtigkeit am Kapitalmarkt etwa oder Fairness und Menschlichkeit bei Investitionen der Nationalbank. Die Wirtschaft hat auf dieses wachsende Bedürfnis zwar vereinzelt reagiert. Banken bieten entsprechende Produkte an. Doch auf Gesetzesebene hielt sich das Land bisher zurück. Dieser Sonntag machte klar: Sehr viele Schweizer hegen gegenüber der Wirtschaft ein zunehmendes Unbehagen. Sie werden dieses in neuen Initiativen zum Ausdruck bringen.
5. Jede Stimme zählt – auch die der Fünften Schweiz
Dieser Sonntag zeigte einmal mehr, wie akzentuiert anders die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland gegenüber den Inlandbürgern abstimmen. In den zwölf Kantonen, welche das Stimmverhalten der Fünften Schweiz ausweisen, resultierte bei den Auslandstimmen ein deutliches Ja zur Konzernverantwortungs-Initiative (57,3%) und ebenso ein Ja zur Kriegsgeschäfte-Initiative (51%). Diesen Sonntag hätten die Stimmen aus dem Ausland das Resultat zwar nicht drehen können. Denn selbst dann, wenn alle Stimmcouverts die Urnen erreicht hätten – was nie der Fall ist – hätte das Ständemehr entschieden.
Gerade knappe Resultate, wie jetzt bei der Konzernverantwortungs-Initiative und zuletzt bei der Kampfjet-Finanzierung, machen aber klar, dass nicht nur theoretisch, sondern ganz real wirklich jede Stimme zählt. Der Kampf, den die Auslandschweizer-Organisation in dieser Hinsicht seit Jahrzehnten führt, ist ein Kampf für die Demokratie Schweiz.
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