Schweizer Filmbranche auf Standby
Internationale Sets, grosse Crews, Nahaufnahmen: Soziale Distanzierung ist beim Filmemachen ein Problem. Ein Schlaglicht darauf, wie Schweizer Regisseurinnen und Regisseur durch die Corona-Krise gekommen sind.
Romed Wyder arbeitete als Regisseur an einer schweizerisch-luxemburgischen Koproduktion, als die Schweizer Regierung im März den Lockdown verkündete und damit den internationalen Reiseverkehr faktisch abstellte. «Wir wussten nicht, was passieren würde und mussten rasch entscheiden», sagt Wyder. «Wir stoppten alles und verschoben es auf den Spätsommer.»
Ensemble und Crew seines Spielfilms «Une histoire provisoire» stammen aus beiden Ländern. Der Hauptschauplatz war Luxemburg. «Wir waren gerade mit der Installation der Dekoration für unsere Innenaufnahmen fertig, wo die Dreharbeiten eine Woche später beginnen sollten», sagt er. «Wir konnten diese Wohnung nur bis Anfang September haben, also mussten wir unbedingt vorher zurückkommen.»
Eine Industrie in der Warteschleife
Wyders Produktion ist eine von vielen, die mitten in der Pandemie zum Erliegen kamen. Die Pause belastete Budgets und gefährdete Arbeitsplätze und Output in der Kreativwirtschaft des Landes.
Die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, das Mutterhaus von swissinfo.ch, investiert normalerweise jährlich 32,5 Millionen Franken in die Filmindustrie. Damit zählt die SRG mit dem Bund und den Kantonen zu den Top drei der Schweizer Filmförderung. Dieses Jahr aber musste die Produktion mehrerer Fernsehserien, Dokumentarfilme und Koproduktionen aufgeschoben werden – oder sie wurden gleich auf Eis gelegt. Auch Filmpremieren wurden verschoben, da die Kinos geschlossen waren.
Das Filmfestival von Locarno wurde, wie viele ähnliche Veranstaltungen, wegen des Corona-Ausbruchs in seiner traditionellen Form abgesagt. Die Organisatoren beschlossen deshalb, eine neue Preiskategorie einzuführen: Zwanzig Projekte, die wegen des Coronavirus auf Eis gelegt wurden – zehn Schweizer, zehn internationale – konkurrierten in der Kategorie «Die Filme von morgen»Externer Link. Fünf Gewinner erhielten Preisgelder zwischen 30’000 und 100’000 Franken, damit die Teams ihre Filme fertigstellen konnten.
Unerwartet aufgeblähte Budgets
Die Demontage und Lagerung der Set-Dekoration brachte für Wyder zusätzliche Kosten mit sich. Ebenso wie die verlängerte Miete der Ausrüstung und die Gehälter, die er wegen den zusätzlichen Dreharbeiten zahlen musste.
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Mehr Drehtage sind aber nicht der einzige Grund für die ungeplante Budgeterhöhung. Gemäss den RichtlinienExterner Link des Schweizerischen Verbands der FilmproduzentInnen müssen Produktionsfirmen die Sets mit Waschanlagen, Desinfektions- und Schutzmaterial ausstatten und zusätzliches Reinigungspersonal zur Verfügung stellen. Angestellte müssen in kleineren Gruppen oder einzeln reisen.
«Wir mussten den Umlauf der Personen am Set neu organisieren, um den nötigen Abstand zu wahren und die maximale Anzahl Personen pro Raum einzuhalten», sagt Wyder. «Dies kann den normalen Tagesablauf um eine Stunde verlängern». Empfohlen ist auch die Ernennung eines Gesundheitszuständigen, der sicherstellt, dass die Regeln eingehalten werden. Keine Kleinigkeit bei knappen Budgets.
«Im Idealfall suchen wir jemanden, der auch über medizinische Grundkenntnisse verfügt», so Elena Tatti, Produzentin bei der Schweizer Produktionsfirma Box Productions. Auch die Dreharbeiten für ihren kommenden Spielfilm mussten von Mitte Juli auf Anfang September verschoben werden.
Sorgfältiges Vorgehen
Inmitten der Ungewissheit schafften es einige noch, ihre Dreharbeiten mit den nötigen Vorsichtsmassnahmen fortzusetzen. So etwa die Regisseurin Laura Kaehr, die derzeit «Becoming Giulia» dreht. Alle trugen in den ersten, kritischen Wochen der Pandemie Masken und Schutzhandschuhe, sagt sie.
«Ich drehe einen Dokumentarfilm, da ist es etwas anders. Die Schauspieler sind Teil einer echten Familie, sie teilen sich ein Haus. Es ist keine soziale Distanzierung zwischen ihnen erforderlich», sagt Kaehr. «Zum Glück wohnen meine Protagonisten im Erdgeschoss, so dass wir zu Beginn weiterarbeiten konnten, während die Crew draussen im Garten blieb und das Mikrofon in der Nähe des Fensters platzierte», erinnert sie sich.
Bedeuten das, dass es keine Filme mehr geben wird, die engen Kontakt zwischen den Schauspielern zeigen? «Es muss sie geben», sagt der Schweizer Produzent und Regisseur Alberto Meroni. «Es liegt an uns, Wege dafür zu finden.» Während der Pandemie drehte er nur ein paar Fernsehspots. Das beeinflusste seine Entscheidung, die Dreharbeiten für andere Projekte zu verschieben.
«In diesen kurzen Spots gab es nur wenige Schauspieler, die zur selben Familie gehörten, die Crew trug Masken und wir drehten draussen», sagt Meroni. «Diese Massnahmen wären beim geplanten Spielfilm nicht anwendbar gewesen, denn er spielt in einem Gymnasium, mit vielen Kindern, in einem geschlossenen Raum.»
Die Verhängung einer Quarantäne für Darsteller und Crew ist nicht immer durchführbar, aber es könnte eine Option sein, um weitere Verzögerungen zu vermeiden: «Bis wir einen Impfstoff bekommen, müssen die Schauspieler mitmachen und sich isolieren, bevor sie ans Set kommen», sagt Meroni.
Unsicherheiten nach Drehbeginn
Neben Nahaufnahmen wirft die Pandemie auch Fragen über die Besetzung auf. In den Branchenrichtlinien heisst es, dass als gefährdet eingestufte Personen nicht eingestellt werden sollten. Damit sind unter anderem Personen ab 65 Jahren effektiv ausgeschlossen.
Dies verursachte die Verzögerung des bevorstehenden Spielfilms «Aller Tage Abend» des Regisseurs Felix Tissi, einer «skurrilen Geschichte über das Alter.» Die Dreharbeiten wurden Mitte März unterbrochen und werden wahrscheinlich nicht vor Ende des Jahres wieder aufgenommen.
Doch dies sind nicht die einzigen Probleme. Weltweit abgesagte Filmfestivals und Premieren beeinträchtigen die Sichtbarkeit der Projekte, während viele in der Branche sich Sorgen über ein Überangebot machen, wenn das Leben nach der Pandemie zu einer Art Normalität zurückkehrt.
Da viele freischaffend sind und an mehreren Projekten gleichzeitig arbeiten, haben die Verschiebungen auch Projekte gefährdet, die in diesem Herbst beginnen sollen. Produzenten müssen möglicherweise miteinander konkurrieren, um die besten Techniker für ihre Produktionen zu gewinnen.
Insgesamt sagen Regisseure und Produzenten, dass die Schauspieler ihre Verantwortung ernst nehmen und dass sie einander vertrauen. «Schauspieler wissen, was es bedeutet, nicht arbeiten zu können. Das wollen sie nicht riskieren», sagt Romed Wyder. «Wir haben absolut kein Interesse daran, dass jemand krank wird, also werden wir alles Nötige tun, um das und allfällige Verzögerungen zu verhindern.»
Wyder ist einer der Glücklichen: Die Dreharbeiten für seinen Spielfilm haben sowohl in Luxemburg als auch in Genf wieder begonnen.
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Auf dem Set in Genf
(Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris)
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