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«Meine erste Ausstellung organisierte ich zu Hause in der Küche»

Hans-Ulrich Obrist
Hans Ulrich Obrist: "Es ist unglaublich, dass ein so kleines Land ganze Künstlergenerationen von internationaler Wichtigkeit hervorgebracht hat. Keystone

Der Schweizer Ausstellungsmacher Hans Ulrich Obrist spielt in der Top-Liga der internationalen Kunstbranche. Er hat auf der ganzen Welt Hunderte von Ausstellungen kuratiert. swissinfo.ch hat Obrist an der Milano Design Week getroffen.

swissinfo.ch: Sie haben Wirtschaftswissenschaften studiert. Wie haben Sie sich der Kunstwelt angenähert?

Hans Ulrich Obrist: Ich habe Wirtschafts-, aber auch Umweltwissenschaften studiert, was heute ein ganz wichtiges Thema ist. Ich studierte damals bei einem Schweizer Ökonom an der Universität St.Gallen, der mit Verweis auf Goethe einen Zusammenhang zwischen Kunst und Ökologie herstellte. Ich lernte dank meines Professors einige Künstler kennen, die mich beeindruckt haben, beispielsweise das Zürcher Künsterduo Fischli & Weiss oder den Franzosen Christian Boltansky.

Und eigentlich wurde ich dann mehr oder weniger aus Zufall Kurator. Meine erste Ausstellung machte ich in der Küche meiner Wohnung. Es hat mich stets fasziniert, durch Kunst Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Und deshalb habe ich dann mit den Ausstellungen weiter gemacht.

Ein handschriftliches Instagram-Profil

Hans Ulrich Obrist hat auf Instagram 218’000 Follower. Und in seinem Profil finden sich etliche Anmerkungen und Zettel, denen eines gemeinsam ist: Sie sind alle von Hand geschrieben, in Druckschrift oder Schreibschrift, zudem in verschiedenen Sprachen. 

Obrist sagt dazu: «Nach meinem letzten Treffen mit Umberto Eco in Mailand habe ich entschieden, mein Instagram-Profil der Handschrift zu widmen. Er hatte mich gebeten, das Aussterben der Handschrift zu bekämpfen. Und daher publiziere ich Notizen von Architekten und Künstlern, um die Handschrift im digitalen Zeitalter am Leben zu erhalten.“

swissinfo.ch: Als Ausstellungsmacher reisen Sie sehr viel. Wie gelingt es Ihnen, mehrere Ausstellungen gleichzeitig zu kuratieren, ohne bei einer einzelnen Ausstellung Abstriche an der Qualität machen zu müssen?

H.U. O.: Ich habe da immer einen Satz des vietnamesischen Generals Giap im Kopf, den sich schon der Künstler Mario Merz geliehen hat. Dieser besagt: Wenn man Land erobert und sich vergrössert, dann verliert man die Konzentration. Dieser Satz begleitet mich sozusagen ständig und hat sich in mein Bewusstsein eingeprägt. Wenn ich immer mehr Dinge mache und expandiere, versuche ich einfach, die Konzentration nicht zu verlieren.

swissinfo.ch: Sie führen viele Interviews und Gespräche, auch mit einfachen Bürgern. Stimmt es, dass Sie einen Assistenten beschäftigen, der nachts alle diese Interviews katalogisiert?

H.U. O.: Das stimmt. Dieser Assistent arbeitet ab 22/23 Uhr nachts bis um 7 Uhr morgens. Bis vor kurzem schlief ich selbst sehr wenig, doch inzwischen schlafe ich länger. Ich arbeite mit ihm bis Mitternacht an Entwürfen und für das Archiv. Deshalb trägt es den Namen „Nachtarchiv“.

swissinfo: Sie leben als Schweizer in London. An was mangelt es der Schweizer Kunst, um zu einem internationalen Referenzwert zu werden?

H.U. O.: In der Schweiz gab es immer aussergewöhnliche Künstler. Die Kunst ist sehr präsent. Es ist unglaublich, dass ein so kleines Land ganze Künstlergenerationen von internationaler Wichtigkeit hervorgebracht hat.

Der Schweiz fehlt aber ein grosses internationales Kunstereignis, um in grösseren Dimensionen zu denken, so etwas wie die Biennale von Venedig, oder auch eine grosse Ausstellung wie „Weltuntergang“ von Harald Szeemann, die 1999 im Kunsthaus Zürich stattfand.

Doch es gibt die Art Basel, die ich seit 1983 besuche, seit ich mich mit Kunst beschäftige. Das ist ein wichtiger Kunstevent, zu dem Menschen aus der ganzen Welt kommen. Für Schweizer Künstler stellt die Art Basel eine einmalige Gelegenheit dar, sich bekannt zu machen.

«Wir müssen die Kunstwelt an diejenigen Personen heranführen, die allein niemals auf die Idee kämen, eine Ausstellung oder ein Museum zu besuchen.»

swissinfo.ch: Sie sind Kurator. Was macht eigentlich ein Ausstellungsmacher?

H.U. O.: Wie Harald Szeemann einmal sagte, ist der Kurator ein Generalist. Der Ausstellungsmacher schafft Ausstellungen und kreierte «junctions», also Schnittpunkte und Verbindungen. Ab dem 19. Jahrhundert ist die Geschichte der Kunst vor allem eine Geschichte von Objekten.

Erst ab den 1960er-Jahren wird es auch eine Geschichte von Nicht-Objekten: und heute haben wir auch Quasi-Objekte (die, wie der Philosoph Michel Serres sagt, nur Sinn haben, wenn man mit ihnen interagiert) oder Hyper-Objekte – diese umfassen auch weitere Themen wie das Klima oder die Meteorologie.

Wir können also festhalten, dass ein Ausstellungmacher Schnittpunkte zwischen Werken und Objekten schafft, aber auch Schnittpunkte zwischen Nicht-Objekten, Quasi-Objekten und Hyper-Objekten. Und natürlich werden Verknüpfungen geschaffen.

Ich gestalte häufig Schnittpunkte zwischen Künstlern, Architekten und Wissenschaftlern, die dann untereinander zusammenarbeiten und den Ausstellungen Leben einhauchen. Themenfelder, Denkweisen und Kulturen verbinden sich dank Kuratoren. Wenn sie aufeinandertreffen, entsteht Neues.

swissinfo.ch: Welche Herausforderungen stellt diese Arbeit?

H.U. O.: Ein Kurator muss natürlich die aktuellen Tendenzen der Kunst verfolgen, und dies in einer sehr weiten Dimension. Ein Kurator schafft Brücken, weil er sich nicht nur an ein Fachpublikum wendet, das sich sowieso schon für Kunst interessiert, sondern auch Wege ausloten muss, damit Kunst die ganze Gesellschaft und das Gewebe der Städte durchdringt. Kunst geht über einen Museumsbesuch hinaus.

swissinfo.ch: Wie lässt es sich erreichen, dass Kunst nicht als Angelegenheit einer Elite wahrgenommen wird, sondern wirklich demokratisch ist und breite Gesellschaftsschichten anspricht?

H.U. O.: Dieser Themenkomplex interessiert mich sehr. Die Frage ist, wie wir durch Ausstellungen mit verschiedenen Welten kommunizieren können. Ich bin künstlerischer Leiter der Serpentine Galleries in London, wo wir jedes Jahr Ausstellungen mit bedeutenden Künstlern aus der ganzen Welt organisieren. Der Eintritt ist kostenlos und allein im letzten Jahr konnten wir 1,2 Millionen Besucher zählen.

Aber tatsächlich hat ein bestimmtes Zielpublikum trotz Gratis-Eintritt eine Schwellenangst, sich der Kunst anzunähern. Aber das ist genau unsere Aufgabe: Wir müssen die Kunstwelt an diejenigen Personen heranführen, die allein niemals auf die Idee kämen, eine Ausstellung oder ein Museum zu besuchen. Ich bin überzeugt, dass Kunst und Architektur die Kraft haben und das Potential aufweisen, um ein grösstmögliches Publikum zu erreichen. Ideal ist das Konzept eines Museums der offenen Türen.

swissinfo.ch: Tatsächlich vertreten Sie den Standpunkt, dass Kunst das ganze öffentliche Leben einer Gesellschaft durchdringen sollte…

H.U. O.: Ja, und diese Ansicht vertrat auch John Leffen. Bei jeder Kommunalverwaltung und in jedem Unternehmen sollte immer auch ein Künstler arbeiten. Kunst sollte aus ihrem engen Korsett befreit werden.  

Hans Ulrich Obrist wird 1968 in Weinfelden geboren und wächst in der Ostschweiz auf. Er studiert an der Universität St.Gallen und nähert sich als Autodidakt der Kunstwelt an – als Kurator, Kritiker und Kunsthistoriker. 

Im Jahr 2009 steht Obrist im Fachmagazin «Art Review» an erster Stelle auf der Liste der 100 einflussreichsten Menschen in der Kunstbranche. 

Obrist hat über 250 Ausstellungen kuratiert, die erste davon The Kitchen show (World Soup, 1991). Es folgten unter anderem die 1. Berlin- Biennale (1998), die 1. und 2. Moskau-Biennale (2005/ 2007) sowie Indian Highway (2008–2011).

Seit 2016 ist er Direktor der Serpentine GalleriesExterner Link in London. Zuvor war er Kurator des Musée d’Art Moderne in Paris sowie des Museum in Progress in Wien.

Übertragung aus dem Italienischen und Bearbeitung: Gerhard Lob

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