Legal oder illegal? Die verkannte Gefahr des Schweizer Taschenmessers
In Japan wurde ein Mann verurteilt, weil er ein Schweizer Taschenmesser auf sich trug. Das kann auch anderswo passieren. Über ein unterschätztes Risiko.
«Ein richtiger Mann trägt ein Taschenmesser im Hosensack.» Der Spruch war in der Schweiz lange verbreitet. Inzwischen ist er ein legitimes Opfer der Gleichberechtigungsdebatte geworden. Aber die Gewohnheit, ein Taschenmesser zu tragen, lebt fort, und sie schliesst auch Frauen ein.
Ein Sackmesser, wie man hier auch sagt, besitzen in der Schweiz oft schon Kinder. Nicht das offizielle Armeemesser mit Flaschenöffner und Korkenzieher, aber kleinere, bunte Varianten mir kurzer Klinge und Schere.
Für jedes Alter (und Hobby) gibt es passende Modelle. Viel passieren kann nicht, ausser einem kleinen Schnitt in den Finger.
Anders in Japan: Hier wurde im August ein Mann wegen eines Schweizer Taschenmessers verurteilt. Er hatte das Messer in den 1990er-Jahren von einem Bekannten geschenkt bekommen und lange beruflich genutzt. Danach trug es weiter auf sich, eine Gewohnheit, die ihm zum Verhängnis wurde.
Im Prozess in Osaka sagte er aus, er habe das Taschenmesser für den Fall einer Naturkatastrophe dabeigehabt. Das Gericht liess die Erklärung aber nicht gelten.
Ein Taschenmesser zu diesem Zweck auf sich zu tragen, setze voraus, dass eine Katastrophe bereits eingetreten sei. Sonst handle es sich um das Mitführen eines gefährlichen Gegenstandes. Das Gericht entschied gegen den Mann und büsste ihn mit 9900 Yen (rund 60 Franken).
«Wird das berühmte Messer verboten?»
In der Schweiz wäre ein solches Verdikt undenkbar. Zwar ist es auch hier strafbar, einen gefährlichen Gegenstand mitzuführen – wer also beispielsweise mit dem Baseballschläger ins Training fährt, macht nichts verkehrt, wer den Schläger in eine Bar mitnimmt, riskiert eine Anzeige. Aber das Taschenmesser ist von dieser Kategorie explizit ausgenommen. Und es gilt auch nicht als Waffe.
Verboten sind in der Schweiz Messer, die einhändig geöffnet werden, wie Spring- und Schmetterlingsmesser, zudem Dolche mit symmetrischer Klinge. Das Waffengesetz und die Taschenmesser-Modelle greifen nahtlos ineinander. Die Kongruenz ist politisch gewollt.
Als die Landesregierung per 2016 eine kleine Revision des Waffenverordnung ins Auge fasste und festschreiben wollte, dass Messer und Dolche als Waffen gelten, wenn ihre Klinge über 5 Zentimeter lang ist, reagierte das Parlament umgehend.
Die Pläne hätten «Verwirrung» und «Unverständnis» ausgelöst, schrieb ein Nationalrat der Mitte-Partei in einem Vorstoss und fragte: «Wird das berühmte Schweizer Taschenmesser verboten?»
Die Konfusion war dann aber rasch aufgelöst. Der Passus sei von der Messerbranche gewünscht worden und tangiere das Taschenmesser nicht, stellte die Regierung klar. Es gehe im Gegenteil um die Beseitigung einer Überreglementierung. Konkret darum, kurze Dolche zu entkriminalisieren, so etwa Austernöffner, weil eine missbräuchliche Verwendung dieser Gegenstände kaum denkbar sei.
Vereinzelte Gewalttaten
Missbräuchlich verwendet wird auch das Taschenmesser kaum. Zwar gibt es dazu in der Schweiz keine verlässlichen Daten, weil die Polizeiorganisationen bei Gewalttaten mit Stichwaffen den Typus nicht näher erheben.
Aus Gerichtsverfahren und der öffentlichen Debatte über Messergewalt, die in der Schweiz markant zugenommen hat (siehe Box), lässt sich aber ablesen, dass Taschenmesser kaum als Waffe missbraucht werden.
In der Kriminalstatistik 2022 der Schweiz belegen Stichwaffen zwei traurige Spitzenpositionen: Sie sind sowohl bei Tötungsdelikten (17 von insgesamt 42) als auch Versuchten Tötungen (117 von insgesamt 195) das häufigste Tatmittel.
Die Messergewalt nahm zuletzt wieder zu in der Schweiz, das gilt auch bei einer langfristigeren, über die Pandemie hinausreichende Betrachtung. Und es gibt ein Problem mit der jungen Generation: Wie eine StudieExterner Link der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften 2022 zeigen konnte, trägt jeder fünfte Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren ein Messer bei sich. Bei den Mädchen ist es jede Zehnte.
«Gerade junge Männer unterstreichen zunehmend mit Gewalt und Dominanzgebaren ihre Männlichkeit», sagte Gewaltforscher Dirk Baier, der die Studie geleitet hat, gegenüber der Schweizer Gratiszeitung 20 MinutenExterner Link. Das Messer sei ein Symbol, das diesem Zweck diene, aber auch zum Selbstschutz und zum Schutz von Freunden. Messeraffin sind gemäss Studie vor allem Jugendliche mit tieferem Bildungsstand.
Illegale Messer finden laut Baier in der Peer Group deutlich mehr Anerkennung als legale. Und sie seien leicht zu beschaffen, über das Internet. Der Trend zur Einfuhr verbotener Messer sei «ungebrochen», stellte das Bundesamt für Zoll bereits vor drei Jahren festExterner Link.
Entdeckt die Schweizer Zollbehörde illegale Messer, droht eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. In jedem Fall gibt es für das Vergehen einen Eintrag ins Strafregister, auch wenn der Gesetzesverstoss unwissentlich erfolgte.
Auch eine Suche im Internet fördert nur vereinzelte Fälle zu Tage: 2020 etwa verletzte ein Brite den Freund seiner Mutter mutmasslich mit einem Schweizer Armeemesser, der Einstich im Rücken sei rund einen Zentimeter tief gewesen, berichteteExterner Link die Zeitung Oxford Mail.
2019 soll ein Ukrainer nahe Kharkiv den Vergewaltiger seiner Frau mit einem Schweizer Taschenmesser kastriert haben, wie die britische Boulevardzeitung The Sun unter Berufung auf lokale Medien schreibtExterner Link.
Hersteller Victorinox reagiert
Verbreiteter ist die rechtliche Gefahr, die vom Messer für seine Träger:innen ausgeht. Und das längst nicht nur in Japan. Victorinox, der global tätige Hersteller der Schweizer Taschenmesser, weist auf seiner Webseite auf die rechtlichen Risiken hin.
Auch sei das Verkaufspersonal entsprechend instruiert, schreibt das Unternehmen auf Anfrage. «Zum Beispiel in UK, wo strengere Bestimmungen gelten als im übrigen Europa, haben wir in unserem Store eine Information angebracht, auf der wir Kunden auf die lokalen Gesetzesbestimmungen hinweisen.»
Seit dem «Prevention of Crime act» von 1953 hat Grossbritannien sein Waffengesetz mehrfach verschärft, an vielen Orten herrscht für das Mitführen von Messern heute de facto ein Verbot, oder es gibt Zusatzauflagen, zulässig ist dann etwa nur das Mitführen im Angelkasten oder Kofferraum.
Auch Spanien oder die Niederlande haben eher restriktive Gesetze im Umgang mit Messern. In der EU erlaubt ein Grossteil der Staaten Messer mit einer Klingenlänge von 7 bis 7,5 Zentimetern, verlangt aber, dass diese nicht einhändig zu öffnen und nicht arretierbar sind. Aber eben, die Regelung ist nicht einheitlich.
Victorinox räumt ein, dass es schwierig sei, die rechtliche Lage, die sich manchmal auch kurzfristig ändere, in allen Märkten im Blick zu behalten. Man verweise deshalb an die lokalen Behörden.
«Wir können keine verbindlichen Rechtsauskünfte erteilen.» Mit den Vertriebspartnern sei vertraglich vereinbart, dass sie die Messer nur gesetzeskonform vertreiben dürfen.
In der Produktentwicklung liege der Fokus auf dem Verständnis des Taschenmessers als Multifunktionswerkzeug für den Alltag.
«Die meisten unserer Modelle gelten per Definition in den meisten Märkten nicht als gefährlicher Gegenstand. Bei gewissen grösseren Modellen wurde die technische Lösung so entwickelt, dass sie je nach gesetzlichen Vorgaben angepasst werden kann, zum Beispiel bei Modellen mit Einhandöffnung.»
Ganz wohl ist dem Hersteller mit dem Thema, das auch erhebliche wirtschaftliche Risiken birgt, aber offenbar nicht. Ab nächstem Jahr will Victorinox eine Compliance-Stelle schaffen, um die regulatorischen Bedingungen und Risiken enger zu beobachten.
Eine Frage der Ehre
Zur Verurteilung in Japan schreibt das Unternehmen: Es sei Victorinox bekannt, dass «gerade in Japan besonders strenge Regelungen gelten». Jedoch gebe es einen relativ grossen Ermessensspielraum in der Auslegung. «Das heisst, es findet eine situative Beurteilung statt.»
Auf diesen Ermessensspielraum hofft auch der verurteilte Japaner selbst. Obschon er lediglich im Umfang einer Parkbusse bestraft wurde, will er in Berufung gehen, wie sein Anwalt Toshiaki Takae gegenüber SWI swissinfo.ch sagt. Seinem Mandanten gehe es um die Verteidigung seiner Ehre.
Editiert von Balz Rigendinger.
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