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«Der Schweizer Film braucht kein zusätzliches Geld, um erfolgreich zu sein»

© Keystone / Peter Klaunzer

Der Schweizer Film sollte sein Glück nicht in der Lex Netflix suchen, meint die Co-Präsidentin der Jungen Grünliberalen Virginie Cavalli. Für das Mitglied des Referendumskomitees ist das zur Abstimmung stehende Gesetz unnötig und schadet den Konsument:innen.

Die Jugendsektionen der rechten Parteien wollen die geplante Änderung des Filmgesetzes nicht. Weil sie dagegen das Referendum ergriffen haben, wird die Vorlage am 15. Mai dem Volk vorgelegt.

Die bürgerlichen Jungparteien befürchten, dass die Gebühren der Streamingdienste in die Höhe schnellen werden, und sie wollen nicht, dass man ihnen vorschreibt, was auf den Plattformen zu sehen ist.

Das neue Gesetz – auch «Lex Netflix» genannt – sieht vor, dass Streaming-Plattformen wie Netflix, Amazon oder Disney+ jährlich mindestens 4% ihres Umsatzes an die Schweizer Filmindustrie zahlen müssen. Ausserdem werden sie verpflichtet, 30% europäische Filme ins Programm aufzunehmen.

Fast die Hälfte der europäischen Staaten hat bereits ähnliche Massnahmen ergriffen. Besonders weit gehen Frankreich mit einer Reinvestitionspflicht von 26% und Italien mit 20%.

Um zu erfahren, was bei der Abstimmung über das neue Filmgesetz auf dem Spiel steht, lesen Sie unseren Explainer:

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Die Befürworter:innen sind der Meinung, dass die neue Gesetzgebung eine gewisse Vielfalt beim Angebot von Online-Diensten gewährleisten wird. Virginie Cavalli, Mitglied des Referendumskomitees und Co-Präsidentin der Jungen Grünliberalen, glaubt nicht daran. Sie ist überzeugt, dass der Schweizer Film eher nach einer Demokratisierung streben sollte, als nach mehr finanzieller Unterstützung zu rufen.

swissinfo.ch: Die nationalen und regionalen Fernsehsender sind bereits verpflichtet, 4% ihres Umsatzes in das Schweizer Filmschaffen zu investieren. Sollten nicht auch Streaming-Plattformen dieser Verpflichtung unterliegen, um eine Gleichbehandlung zu gewährleisten?

Virginie Cavalli: Nein, da es sich um sehr unterschiedliche Dienstleister handelt. Anbieter, die die 4% ihres Umsatzes nicht in den Schweizer Film investieren, müssen eine Ersatzabgabe entrichten. Meiner Meinung nach werden die grossen Streaming-Plattformen die Abgabe bezahlen, anstatt in unsere Filmproduktion zu investieren, und die Mehrkosten auf die Konsumentinnen und Konsumenten abwälzen.

Darüber hinaus diskriminiert das neue Gesetz die privaten Schweizer Fernsehsender. Bisher konnten diese Werbespots für den Schweizer Film als Investitionen verbuchen. In Zukunft wird dies nur noch eingeschränkt möglich sein. Sie werden also wieder in den Schweizer Film investieren müssen, während ihre eigenen Produktionen, die keine Gebührengelder erhalten, nicht unterstützt werden und darunter leiden werden.

In Ländern, die bereits eine Investitionspflicht eingeführt haben, sind die Abonnements für Streamingdienste jedoch billiger als in der Schweiz. Beruhigt Sie das nicht in Bezug auf die Auswirkungen des Gesetzes auf die Konsument:innen?

Es gibt immer jemanden, der am Ende zahlen muss. Kleine Plattformen werden einfach auf den Schweizer Markt verzichten, da sie sich die zusätzlichen Kosten nicht leisten können. Internationale Plattformen wiederum werden die zusätzlichen Kosten zwangsläufig auf die Schweizer Nutzerinnen und Nutzer abwälzen, die zudem über eine hohe Kaufkraft verfügen. Diese Unternehmen sind pragmatisch.

Sollten wir das neue Gesetz nicht vielmehr als eine Gelegenheit betrachten, dass unsere Filmproduktionen in der ganzen Welt zur Geltung kommen?

Es gibt bereits erfolgreiche Schweizer Filme, die kein zusätzliches Geld benötigten, um über unsere Grenzen hinaus bekannt zu werden. Der Schweizer Film wird mit über 100 Millionen Franken pro Jahr bereits stark von der öffentlichen Hand subventioniert.

Fast die Hälfte der europäischen Länder hat sich für Investitionsabgaben entschieden. In Portugal beträgt diese Verpflichtung nur 1%, in Italien jedoch 20% und in Frankreich 26%. Sollte die Schweiz diesem Trend nicht folgen, um zu verhindern, dass die Einnahmen von Streaming-Plattformen einfach im Ausland investiert werden?

Internationale Vergleiche sind schwierig. Zum Beispiel kann man den französischen Filmmarkt nicht wirklich mit dem helvetischen vergleichen. Schweizer Filme sind hauptsächlich Autorenfilme, die nur ein Nischenpublikum erreichen, was in Frankreich nicht der Fall ist. Daher kann man nicht das gleiche System anwenden. In der Schweiz dient dieses Gesetz Partikularinteressen und nicht den Interessen der breiten Masse. Im Jahr 2019, vor der Coronavirus-Krise, hatten nur zwei Schweizer Filme mehr als 100’000 Kinoeintritte. Es gibt ein Problem mit der Demokratisierung dieser Inhalte. Der Schweizer Film hat Mühe, sein Publikum zu finden.

Das neue Gesetz will Streaming-Dienste dazu verpflichten, 30% der Inhalte in der Schweiz oder in Europa zu produzieren, wie es die Länder der EU bereits tun. Kann es sich die Schweiz leisten, im Alleingang darauf zu verzichten?

Diese Verbreitungspflicht wird sich nicht unbedingt auf die grossen Plattformen auswirken, da sie bereits über die Strukturen verfügen, um diese Massnahme umzusetzen. Sie werden lediglich zusätzliche Bürokratie und höhere Ausgaben haben. Kleine Video-on-Demand-Dienste, die spezifische Inhalte anbieten, werden hingegen benachteiligt werden. Es besteht die Gefahr, dass wir eine gewisse Vielfalt verlieren. Man denke an kleine Plattformen, die sich auf Mangas, Bollywood-Filme oder sogar auf Pornografie spezialisiert haben. Auch sie werden diesem Gesetz unterliegen und Schwierigkeiten haben, es einzuhalten.

Zudem ist es in einer multikulturellen und globalisierten Schweiz problematisch, schweizerische und europäische Produktionen zu bevorzugen. Die Quote ist eine Diskriminierung für Länder ausserhalb der EU und schottet uns ab.

Diese Quote ist auch eine Forderung der EU, damit die Schweiz wieder in das europäische Kulturförderungsprogramm «Creative Europe» aufgenommen werden kann. Ist es nicht notwendig, dass der Schweizer Film mit den Nachbarländern zusammenarbeiten kann?

Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweiz die Übernahme eines europäischen Standards in Frage stellt. In wirtschaftlichen Fragen ist die Schweiz oft liberaler als ihre Nachbarländer.

Sophie Michaud Gigon, Grünen-Nationalrätin und Generalsekretärin des Westschweizer Konsumentenverbandes, unterstützt das neue Filmgesetz. Im Interview erklärt sie, weshalb:

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