Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Liberias Billigflagge aus Zürich-Altstetten

Die MSC Tessa wird an einem Hafen beladen
Tausende Containerschiffe fahren unter der liberianischen Flagge, so auch die MSC Tessa. Jonas Roosens/AFP

Aus einem obskuren Büro in Zürich-Altstetten wirbt das liberianische Schifffahrts-Register um Kundschaft in der Schweiz. Das ist kein Zufall: Hiesige Firmen kontrollieren eine der grössten Handelsflotten der Welt.

An eine Seemacht erinnert nichts in diesem grauen Geschäftshaus in Zürich-Altstetten. Im Erdgeschoss eine Aldi-Filiale, in den oberen Etagen zwei Architekturbüros, ein thailändisches «Day-Spa» und eine Podologie-Praxis – von der Hochseeschifffahrt scheint man im einstigen Arbeiterquartier so weit weg wie vom Meer.

Doch das täuscht. Was beim Hauseingang klein und kryptisch mit «LISCR» angeschrieben ist, erweist sich zwei Stockwerke höher als Büro des liberianischen Flaggenregisters, einem Schwergewicht der internationalen Schifffahrt. Weltweit weht die rot-weiss-blaue Flagge des westafrikanischen Kleinstaats auf TausendenExterner Link von Fracht- und Kreuzfahrtschiffen.

Mehrere Hundert davon werden von Schweizer Reedereien oder Handelsunternehmen betrieben. Allein das Genfer Schifffahrtsunternehmen MSC hat über 300 seiner rund 800 Schiffe nach Liberia ausgeflaggtExterner Link.

Das macht das unauffällige Büro in Zürichs Westen zu einem Knotenpunkt im komplexen Netz der Hochseeschifffahrt: Von hier aus dürfte der grösste Schiffsflaggenstaat der Welt einige seiner bedeutendsten Kunden betreuen.

Das überrascht – und es wirft Fragen auf. Wieso gerade Liberia? Was macht die Flagge eines Entwicklungslandes so beliebt bei Schweizer Unternehmen? Und was hat das für Folgen?

Gebäude in Liberia mit Flagge
Liberia ist einer der führenden Anbieter für Billigflaggen. John Moore/Getty Images

Minimalstandards und kaum Steuern

In Altstetten selbst erhält man darauf keine Antworten. Die Bürotür des «Liberian Registry» bleibt bei beiden Besuchen vor Ort verschlossen. Die schriftlich eingereichten Fragen werden nicht beantwortet. Und auch am Telefon – das Büro verfügt über eine Lokalnummer – gibt man sich wortkarg. «Wir dürfen keine Auskunft geben», meint die Frau am anderen Ende, «besonders der Presse nicht.»

Antworten aber haben andere, zum Beispiel Alla Pozdnakova. Die liberianische Flagge gehöre zu den sogenannten «Billigflaggen» (auf Englisch «Flags of Convenience»), erklärt die Professorin, die an der Universität Oslo internationales Seerecht unterrichtet.

Staaten, die solche anbieten, hätten sich darauf spezialisiert, internationalen Reedereien möglichst attraktive Rahmenbedingungen zu bieten. «Gemeint sind tiefe Steuern, laxe Arbeitsrechte, kaum Sozialschutz, oft auch weniger Kontrollen und eine geringe Transparenz», so Pozdnakova.

Die Billigflaggen-Staaten machen es sich zunutze, dass Schiffseigner ihre Flagge frei wählen können. Sie bieten ihnen ein legales Schlupfloch, um die Arbeitsrechte ihres Standortlandes oder nationale Umweltbestimmungen zu umgehen.

Statt des Schweizer oder des norwegischen Rechts gelten an Bord sodann die oft deutlich lascheren Vorgaben des Flaggenstaats, etwa jene Liberias. Eine Niederlassung vor Ort wird dafür nicht vorausgesetzt, die Registrierung erfolgt meist online – oder mit Unterstützung von Repräsentationsbüros wie jenem in Altstetten.

Der WerbesloganExterner Link der Liberianer fasst die fragwürdige Logik dieses Systems gut zusammen: «All flags are not alike» – nicht alle Flaggen sind gleich.

Seit den 1990er-Jahren ist die Zahl der Schiffe, die nicht unter der Flagge des Herkunftslandes operieren, massivExterner Link gestiegen. Heute weht über rund 75% aller Hochseeschiffe eine BilligflaggeExterner Link.

Neben Liberia gehören Panama, Bermuda und die Marshallinseln zu den führenden AnbieternExterner Link. «Zwar müssen auch sie sich an internationale Mindeststandards halten, wie sie in verschiedenen Konventionen definiert sind», sagt Pozdnakova, «doch diese sind an wichtigen Stellen lückenhaft».

Konkret heisst das: Um Sozialabgaben, griffige Umweltstandards oder eine Beschränkung der Arbeitszeiten an Bord braucht man sich auf Schiffen mit Billigflagge kaum zu kümmernExterner Link.

Zudem sparen die Reedereien je nach Herkunftsland bei Steuern und Gebühren: Selbst bei Milliardenumsätzen überweisenExterner Link gewisse Schiffseigner dem Fiskus in den Billigflaggen-Staaten oft nur wenige Tausend Dollar.

Schweizer Schiff, liberianische Flagge

Liberia ist es in den letzten Jahren besonders gut gelungen, neue Kunden für seine Hochseeflagge zu gewinnen. Gemessen am Gesamttransportvolumen hat das Land in diesem Sommer die Hauptkonkurrentin Panama als Nummer eins auf dem umkämpften Flaggen-Markt abgelöstExterner Link.

Aus Fachkreisen heisst es, Liberia biete den Schiffseignern einen effizienten Service an und sei digital gut aufgestellt. Zudem schneiden die «liberianischen» Schiffe gemäss internationalen RankingsExterner Link bei der Einhaltung der globalen Mindeststandards etwas besser ab als manche Billig-Konkurrenten.

Dieses Angebot kommt auch in der Schweiz gut an. Daten der Schifftracking-Plattform vesselfinder.com deuten darauf hin, dass die Zahl der aus der Schweiz kontrollierten Schiffe, die unter liberianischer Flagge fahren, in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.

MSC etwa, die grösste Reederei der Schweiz, hat in diesem Jahr laut vesselfinder.com 41 neue Hochseeschiffe in Betrieb genommen. 38 davon fahren unter liberianischer Flagge.

Eines davon ist das grösste Frachtschiff der Welt, die MSC Cappellini, das im Juli getauft wurde. Am Heck des 400-Meter-Kolosses, der 24’000 Container transportieren kann, prangt in grossen Lettern kein Schweizer Hafen, sondern: MonroviaExterner Link, die Hauptstadt Liberias.

Die MSC Cappellini an einem Hafen
Die MSC Cappellini ist das grösste Frachtschiff der Welt, fährt unter liberianischer Flagge und gehört einer Genfer Reederei. Jiang Xiaodong/Getty Images

Schweizer Rohstoffhandelsfirmen und Reedereien, die eine der grössten Handelsflotten der Welt kontrollieren, dürften zu den wichtigsten Kunden der liberianischen Flagge gehören. Wie viele es genau sind, lässt sich aufgrund der Intransparenz in der Schifffahrtsbranche nicht eruieren.

Die Schweizer Flotte in Zahlen

Wie wichtig die liberianische Flagge für Schweizer Firmen ist, lässt sich nur schätzen. Der Grund: Wer in der internationalen Schifffahrt wie viele Schiffe kontrolliert, ist äusserst intransparent.

Ein Schiff kann einem Unternehmen in Land A gehören, von einem Unternehmen in Land B gechartert werden und unter der Flagge von Land C fahren.

Der Bundesrat geht von «etwa 900 Schiffen» aus, die von den Schweizer Seetransport- und Logistikunternehmen kontrolliert werden. Das sei eine der grössten Handelsflotten der WeltExterner Link.

Allerdings umfasst alleine die Flotte der Genfer Firma MSC 760 FrachtschiffeExterner Link und 23 KreuzfahrtschiffeExterner Link. Kathrin Betz und Mark Pieth schätzen die Schweizer Flotte in ihrem Buch «Seefahrtsnation Schweiz» auf 2000 bis 2600 Hochseeschiffe.

Florence Schurch, Generalsekretärin des Verbandes der Schweizer Rohstoff- und Reedereibranche Suissenégoce, brachte gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF die Zahl von 3700 Schiffen ins Spiel, die von der Schweiz aus kontrolliert würdenExterner Link. Auf Nachfrage kann sie nicht konkret erklären, wie sich diese Zahl zusammensetzt.

Die NGO Public Eye beschränkt sich in ihren Berechnungen auf in der Schweiz ansässige Rohstoffhändler und schätzt deren globale Flotte auf über 2600 Schiffe.

Wie viele davon von der Schweiz aus betrieben werden, sei nicht bekannt. Bekannt ist hingegen, dass unter Schweizer Flagge und damit unter hiesigem Recht nur noch 14 Hochseeschiffe fahren. Ende 2016 waren es noch 50Externer Link.

Stark zugelegt hat die Anzahl Schiffe, die sich im Besitz von Schweizer Firmen befinden: waren es Anfang 2021 noch 420, sind es heute mehr als 600Externer Link. Ein Drittel davon fährt unter liberianischer Flagge, ein Drittel unter panamaischer.

«Die Schlimmsten wählen jene, die am wenigsten Vorschriften machen»

Klar ist: Billigflaggen sind für Reedereien wirtschaftlich attraktiv. Den Bemühungen, die Hochseeschifffahrt sicherer, sauberer und sozialer zu machen, stehen sie aber diametral entgegen. «Die menschlichen Kosten dieses Systems sind inakzeptabel», schreibtExterner Link etwa die britische Schifffahrtsexpertin Rose George.

Wer Schiffseigner die eigene Flagge wählen lasse, dürfe nicht erstaunt sein, dass «die Schlimmsten jene wählen, die am wenigsten Vorschriften machen.» Die Folge sei ein System der Ausbeutung, ein System, in dem vielen Seefahrerinnen und Seefahrern faktisch ihre Rechte entzogen seien.

Ein Hindernis sind Billigflaggen auch für den drängenden Ausbau des Umweltschutzes auf hoher See. Gemäss einer Uno-Studie stossen die «liberianischen» Schiffe weltweit mit AbstandExterner Link am meisten CO2 aus. Ohne die Unterstützung des westafrikanischen Landes scheinen die Umweltprobleme auf den Weltmeeren nicht lösbar zu sein.

Zwar sind auf nationaler Ebene vielerorts Bemühungen im Gang, strengere Regeln für die Schifffahrt einzuführen. Auf globaler Ebene aber harzt es. Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation der Uno (IMO), der auch die Billigflaggen-Staaten angehören, setzt sich bezüglich Umweltschutz zwar ambitionierte Ziele («die Meeresverschmutzung durch Schiffe zu verringern und möglichst ganz zu verhütenExterner Link«). In der Praxis bleibt sie aber weit hinter diesen Ansprüchen zurück.

Wirft man einen Blick auf die Finanzierung der IMO, überrascht dies nicht. Das Budget der Organisation wird grösstenteils von Billigflaggenstaaten wie Liberia und Panama gedecktExterner Link. Der regulatorische Stillstand scheint damit fix im IMO-System eingebaut zu sein.

Monrovia
Monrovia im Oktober 2023: In Liberia selbst ist kaum bekannt, was mit der eigenen Flagge gemacht wird – und sehr wenig kommt davon auch an. John Wessels/Keystone

Nur Brosamen für Liberia selbst

Und wie steht man in Liberia selbst dazu, dass die eigene Flagge die Weltmeere erobert hat? Die überraschende Antwort: In dem Fünf-Millionen-Land scheint das kaum jemand bemerkt zu haben. «Das ist nie Thema in politischen Debatten», sagt der liberianische Politologe Ibrahim Al-bakri Nyei. «Das alles findet unter extremer Geheimhaltung statt.»

Auch andere Stimmen aus Monrovia bestätigen, dass es vor Ort kaum Hinweise gebe, dass sich Liberia zu einer Art Seegrossmacht gemausert hat. Zum einen tauchen die Tausenden Riesentanker und Containerschiffe, die unter der rot-weiss-blauen Flagge Liberias fahren, mit wenigen Ausnahmen nie in Monrovia auf.

Der beschauliche Hafen der liberianischen Hauptstadt fertigt pro Jahr etwa gleich viele Container ab wie der Rheinhafen in BaselExterner Link. Nicht einmal das Geschäft mit der liberianischen Flagge wird in Monrovia selbst abgewickelt.

Mit der Verwaltung des Flaggenregister hat die Regierung die Firma Liberian International Ship & Corporate Registry LISCR beauftragtExterner Link. Diese sitzt im Steuerparadies Delaware (USA) und hat weltweit mehr als zwanzig Niederlassungen – darunter das Büro in Alstetten.

Die liberianische NGO BudgIT hat errechnet, dass Liberia mit dem Flaggen-Geschäft rund elf Millionen Dollar pro Jahr einnimmtExterner Link. Das ist ein willkommener Zustupf für ein finanzschwaches Land – in Relation zum milliardenschweren Schifffahrtsgeschäft wirkt es aber eher bescheidenExterner Link.

«Die breite Bevölkerung in den Flaggenstaaten hat kaum etwas vom System der Billigflaggen», sagt denn auch Alla Pozdnakova von der Universität Oslo. «Die Profiteure sind in erster Linie die internationalen Reedereien.»

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem investigativen Recherche-Team Reflekt entstanden

Die Schweiz ist ein wichtiger Reederei-Standort und damit eine maritime Grossmacht. Mark Pieth und Kathrin Betz erklären, wie es dazu kam:

Mehr
MSC-Schiff an einem Hafen

Mehr

Mark Pieth: «Die Schweiz stellt sich tot»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweiz ist als wichtiger Reederei-Standort eine maritime Grossmacht. Ein Gespräch über ein global vernetztes Binnenland.

Mehr Mark Pieth: «Die Schweiz stellt sich tot»

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft