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Liebe Britinnen und Briten, begrabt den Traum vom Schweizer Modell!

Marc Leutenegger

Die Schweiz ist gut gediehen als Konkubinatspartnerin der EU. Und doch ist die Vorstellung, Grossbritannien könnte den Schweizer Weg kopieren, wie sie gerade durch englische Medien geistert, eine Schnapsidee, aus vier Gründen. Ein offener Brief von Insel zu Insel.

Erstens: Auch wir fahren einen Schlingerkurs

Hattet ihr nicht gerade Ja gesagt zum Inseldasein in Europa? Und jetzt denken 56 Prozent von Euch, dass der Brexit ein Fehler war, und nur noch 32 Prozent sind in ihrem Glauben an den Verzicht auf die Europäische Idee unerschüttert.

Und hatte nicht Euer Ex-Premier in einer rechtskonservativen Schweizer Zeitung erst kürzlich noch von einem «Brixerland» geträumt?

Jetzt aber, da die Diskussion über den «Schweizer Weg» in Eurer ebenso konservativen Nachfolgeregierung Gestalt annimmt, wie die Sunday TimesExterner Link behauptet, reiht sich Dementi an Dementi. Das Aussendepartement weist diverse Medienberichte als «kategorisch unwahr» zurück.

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Grenzen des Schweizer Modells für Brexit

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Ich will ein ‹Britzerland› schaffen», sagte Boris Johnson, damaliger Bürgermeister von London und Vorkämpfer der EU-Gegner, gegenüber der rechtskonservativen Zeitschrift «Die WeltwocheExterner Link» im Dezember 2012. Seine Vision war es, dass Grossbritannien und die Schweiz Gründungsmitglieder «einer neuen Allianz ausserhalb der europäischen Union» würden. Diese Allianz könnte laut Johnson vom Freihandel in der Eurozone profitieren…

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Nicht dass die Schweiz keinen Schlingerkurs fährt. Das Rahmenabkommen mit der EU war einst unsere eigene Idee, auch einen Vorschlag haben wir verabschiedet und dann verworfen.

2022 herrschte zwischen der Schweiz und der EU ein peinliches Schweigen. Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Kann so ein Land zum Vorbild taugen?

Zweitens: Von wegen Rosinen!

In Brüssel stellen sie die Schweiz gerne als Rosinenpickerin dar, die sich nach Belieben an den Vorteilen der EU bedient, ohne sich an den Pflichten zu beteiligen – eine Übertreibung.

Der Deal mit der Union war immer ein Gegengeschäft. Den hindernisfreien Marktzugang gab und gibt es nur zum Preis der Personenfreizügigkeit.

Den heute knapp 9 Millionen Einwohner:innen der Schweiz, ein Viertel davon ohne Schweizer Pass, stehen über 400 Millionen EU-Bürger:innen gegenüber. Und die Löhne sind hoch wie die Alpen: 11’000 Euro beträgt das durchschnittliche Einkommen eines Schweizer Haushalts pro Monat. Damit ist klar, in welche Richtung die Migrationskräfte wirken.

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EU-Recht und EU-Normen werden in der Schweiz autonom nachvollzogen. Hinter dem Begriff versteckt ist der Verlust der Souveränität, sagen zumindest die Kritiker:innen.

Zwar hat die Schweiz die Option, ihr Recht unabhängig zu gestalten, wirtschaftliche und handelspolitische Gründe zwingen sie aber oft dazu, der EU zu folgen. Die Schweizer Grenze ist aus Durchschlagpapier.

Wir könnten anderes aufzählen. Die grenzüberschreitenden Geschäfte des Schweizer Finanzplatzes werden in der EU systematisch erschwert. Ungehindert fliesst derweil die sogenannte Kohäsionsmilliarde über die Grenze, der Schweizer Beitrag an die Strukturentwicklung der EU.

Wir sind zahlende Mitglieder ohne Stimmrecht, und das bis auf Weiteres. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens machte die EU klar, der Beitrag ist regelmässig geschuldet.

Drittens: Das Schweizer Modell gibt’s nicht mehr

Gegen das Schweizer Modell spricht auch die Tatsache, dass es gar kein Schweizer Modell mehr gibt. Die bilateralen Beziehungen liegen in der Agonie. Seit Jahren.

Seit die EU sich gegen die Fortführung der Bilateralen ausgesprochen und ein institutionelles Rahmenabkommen verlangt hat, verfolgt sie eine harte Linie.

Eine satirische «Message from Switzerland» an das britische Volk nach dem Brexit (SRF, Deville vom 30.11.2018):

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Liebe Brit:innen, es waren Eure Gelüste nach Autonomie, die den Anlass gaben, uns zu disziplinieren und so die Angst vor dem Brexit zu schüren. Und nach Eurem «Farewell» galt es umso mehr die Disziplin und den guten Willen in den eigenen Reihen zu fördern, indem man Drittstaaten hart anpackt. Die Schweiz fand nicht mehr aus ihrer Ecke heraus.

Vor eineinhalb Jahren erfolgte der Befreiungsschlag – ins Nichts. Der Bundesrat beendete die Verhandlungen über das Rahmenabkommen nach sieben verflixten Jahren einseitig.

Die Schweizer: innen, diese Grossmeister:innen des Kompromisses, waren sich nicht einig geworden. Nicht mit der EU. Ja nicht einmal untereinander.

Die rechtskonservativen Kräfte warnten vor der Einwanderung ins Schweizer Sozialsystem und vor «fremden Richtern» – gemeint ist der Anspruch der EU, bei Rechtsstreitigkeiten mit der Schweiz das letzte Wort zu haben.

Für linke Parteien und Gewerkschaften blieben die verhandelten Massnahmen zum Lohnschutz unannehmbar. Die Positionen waren und sind in Zement gegossen. Das Schweizer Modell ist abgelaufen.

Viertens: Wollt ihr gepiesackt werden auf dem Pausenhof?

Die globalen Mächte behandeln die EU gerne wie den Schuljungen, der nicht am grossen Tisch sitzen darf. Auf ihrem eigenen Pausenhof aber ist sie der Bully. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens liess die EU die Anerkennung der Äquivalenz der Schweizer Börsen auslaufen, ohne sachliche Gründe. Ein Warnschuss vor den Bug war’s.

Grossbritannien hat die Schweizer Börse nach dem Brexit wieder anerkannt, danke herzlich! Aber kann das unser beider Schicksal sein, ein Tandem zweier Inseln?

Auch aus Horizon Europe, dem grössten Forschungsprogramm der Welt, hat die EU die Schweiz ausgesperrt.  Eine Strafmassnahme nach Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen, die uns da trifft, wo es weh tut, bei der Innovation.

Was sonst bleibt der Schweiz denn noch nach Abschaffung des Bankgeheimnisses und der internationalen Treibjagd auf Steueroasen?

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Elegant ist sie nicht, aber perfide, die neue europäische Machtpolitik. Ihr könnt davon sicher auch schon ein Lied singen. Die Grenze in Irland, der dortige Waren- und Personenverkehr, ist Eure Achillesverse, das weiss man in Brüssel.

Wir Schweizer:innen haben jetzt wieder einen Dialog mit der EU und ein neues Wort, das für eine Annäherung steht: Paketlösung. Wir werden sehen, ob Brüssel und Bern darunter dasselbe verstehen.

Wir werden uns weiterhin auf dem Pausenhof mit Euch verbünden, liebe Brit:innen. Mit Sicherheit. Unser Modell aber hat uns in die Armbeuge der EU geführt, den Weg aus dem Schwitzkasten weisen können wir Euch nicht. Also begrabt den Traum vom Schweizer Modell!

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