Livia Leu: «Diskretion ist eines unserer Markenzeichen»
Der Krieg in der Ukraine, der Sitz im UNO-Sicherheitsrat, das Verhältnis zur EU – die schweizerische Diplomatie war in den letzten Jahren stark gefordert, denn es gab viel Kritik. Die abtretende Staatssekretärin Livia Leu nimmt Stellung zu den grossen Themen – und warum sie noch einmal auf einen Botschaftsposten will.
Die letzten drei Jahre war Livia Leu Staatssekretärin im Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten EDA und als solche auch Chefunterhändlerin für das EU-Dossier. Die Karrierediplomatin war bereits Missionschefin in Iran und Botschafterin in Frankreich, im Herbst wechselt sie an die Botschaft in Berlin – damit wird die 62-Jährige einige der wichtigsten Posten der Schweizer Diplomatie durchlaufen haben.
SWI swissinfo.ch: Seit der russischen Grossinvasion auf die Ukraine musste die Schweiz einiges an Kritik einstecken. Zugespitzt gesagt: Sie verwende aus opportunistischen Gründen ein antiquiertes Neutralitätsverständnis. Wie schätzen Sie den Ruf der Schweiz im Ausland ein?
Der Westen hat sehr geeint auf diesen Krieg reagiert. Und die Schweiz hat bewiesen, dass sie eine solidarische Partnerin in Europa ist: Wir haben die Sanktionen rasch übernommen, wir haben die Unterstützung für die Ukraine intensiviert, haben bis heute über 420 Millionen Franken im Rahmen der Internationalen Zusammenarbeit und humanitären Hilfe geleistet. Zudem hat die Schweiz gegen 80’000 Flüchtlinge aufgenommen. Die wurden nicht nur vom Staat unterstützt, sondern auch viele Privatpersonen haben sich stark engagiert.
Dass wir aus neutralitätsrechtlichen Gründen kein Kriegsmaterial liefern, wird gut verstanden. Komplizierter wird es mit der untersagten Weitergabe von Kriegsmaterial durch Dritte; manche Partnerstaaten tun sich schwer damit. Wenn jedoch Waffen mit einem Schweizerkreuz in einem Krieg enden, dann fragt niemand, ob die direkt oder indirekt da gelandet sind.
Und das müssen Sie den Partnern erklären?
Ja, die Schweizer Diplomatie muss unsere Position im Ausland vermehrt erklären. Es gibt eben einen Unterschied zwischen Neutralitätsrecht – das klar definiert ist – und Neutralitätspolitik, die mehr Handlungsspielraum zulässt.
Übrigens: Diese sogenannte end-user certificates wurden als Ausdruck der Verantwortung geschaffen, dass Staaten nicht einfach Waffen liefern und ihnen danach egal ist, wo sie landen. Aber dieser Krieg in Europa hat viel verändert.
Wie viel Schaden hat die Schweizer Neutralität von diesem Krieg davongetragen?
Ich glaube nicht, dass die Neutralität als solche einen Schaden davonträgt. Die Schweiz wird international weiterhin als klar neutrales Land angesehen, auch wenn es Russland momentan anders sieht.
Auch von den USA gab es aber Kritik. Kürzlich wurde ein Gefangenenaustausch zwischen den USA und Iran bekannt, dabei war die Schweiz involviert. Dieses Lebenszeichen der Guten Dienste kam wohl im richtigen Moment?
Zu aktuellen Fragen aus unseren Schutzmachtmandaten kann ich nichts sagen. Ganz allgemein gilt: Die Zeit der Guten Dienste der Schweiz ist nicht vorbei, wie manchmal kolportiert wird. Wir sehen zwar zunehmend grosse Länder wie China oder die Türkei, die Vermittlungen anbieten und grosse Bewegungen in der Weltpolitik auslösen können. Diese ergänzen jedoch das friedenspolitische Engagement der Schweiz eher als es zu konkurrenzieren.
Aber wir sind weiterhin an vielen Orten involviert, zum Beispiel mit unserem Schutzmachtmandat zwischen Georgien und Russland. Daneben begleiten wir viele Friedensinitiativen und Mediationen zum Beispiel in Kolumbien oder Nigeria. Unsere Guten Dienste sind nach wie vor gefragt, wir können aber nur zurückhaltend darüber kommunizieren. Diskretion ist eben auch eines unserer Markenzeichen, das uns Anerkennung bringt.
Die Schweiz sitzt in diesem Jahr im UNO-Sicherheitsrat. Was wurde bisher erreicht?
Wir konnten in den ersten acht Monaten bereits viel erreichen, im Sicherheitsrat mangelt es nicht an Themen. Manche dachten, dass es wegen dem Krieg eine Totalblockade geben würde. Das ist jedoch nicht im befürchteten Ausmass passiert.
In Zusammenhang mit dem Krieg Entscheide zu fällen ist momentan kaum möglich, aber immerhin kann im Rat darüber diskutiert werden. Und hier spielt die Schweiz mit ihren Erfahrungen bei der Konsens- und Kompromisssuche eine wichtige Rolle. Darüber hinaus haben wir beispielsweise in Bezug auf die Resolution zur grenzüberschreitenden humanitären Hilfe in Syrien eine sehr aktive Rolle gespielt.
Gerade über diesen Korridor kommt aber zurzeit keine Hilfe an. Spielt hier das verschlechterte Verhältnis der Schweiz zu Russland eine Rolle, dass man nicht einmal eine Einigung in einem – in Anführungszeichen – einfachen Geschäft finden kann?
Halt – das ist kein einfaches Geschäft, sondern ein ziemlich kompliziertes!
Ja, aber es ist kein politisches, sondern – wieder in Anführungszeichen – nur ein humanitäres.
Ja, das Problem ist jedoch, dass der syrische Machthaber die UNO nicht als die entscheidende Instanz in dieser Frage akzeptieren wollte. Mit dem Verhältnis der Schweiz zu Russland hat das nichts zu tun.
Was im Januar noch möglich war, nämlich dass die Resolution erneuert wurde, war im Juli schon nicht mehr möglich. Mit solchen Herausforderungen ist man im Rat konfrontiert. Das heisst aber nicht, dass man nicht weiter nach Möglichkeiten suchen kann und soll.
Sie waren in den letzten drei Jahren zuständig für das EU-Dossier. Wie würden Sie einer Nicht-Europäerin das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU beschreiben?
Es ist sicher ein sehr enges Verhältnis. Wir haben mehr als 100 Verträge miteinander, die wir über die Jahre gemeinsam vereinbart haben. Und wir haben grenzüberschreitende Lebensräume mit unseren Nachbarn – die, je mobiler wir werden, sich auch mehr ausdehnen. Also ein Verhältnis im gegenseitigen Interesse.
Können Sie das etwas weniger technisch ausdrücken?
Die menschliche Ebene ist natürlich zentral. Der grenzüberschreitende Handel und Transport sind sowohl für die EU wie auch für die Schweiz wirtschaftlich von grosser Bedeutung. Das zeigt sich auch an der grossen Zahl an Grenzgänger:innen. Wenn man zurückdenkt an die Pandemie, als die Grenzen geschlossen wurden: Da hat man gemerkt, wie eng man eigentlich zusammengewachsen ist.
Dieses enge Verhältnis hat in den letzten Jahren jedoch gelitten. Wo stehen wir bei den Gesprächen mit Brüssel?
Nach dem Ende der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen im Mai 2021 haben wir rasch einen neuen Ansatz vorgeschlagen.
Es geht wiederum um ein Paket, wie bereits bei den Bilateralen I und II. Mit dem neuen Paketansatz wollen wir den erfolgreichen bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln, indem wir neue Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit einschliessen.
Wir wollen auch unsere Teilnahme an EU-Programmen sichern, damit wir nicht mehr in eine solche Situation kommen wie mit dem Forschungsprogramm Horizon. Andererseits sind wir auch bereit, auf die institutionellen Fragen einzutreten, welche die EU mit einer gewissen Dringlichkeit stellt.
Der Bundesrat hat diesen Paket-Vorschlag im Februar 2022 verabschiedet, seither haben zehn Sondierungsrunden stattgefunden. Aus heutiger Warte kann man sagen: Die Gespräche sind neu aufgegleist, das Vertrauen ist wieder hergestellt. Die Basis für unsere jetzigen Gespräche ist das Paket und nicht mehr nur eine institutionelle Fokussierung. In diesem Sinne sind wir heute klar weiter, als wir es vor zwei oder drei Jahren waren.
Zeichnet sich ein Zeithorizont für die Aufnahme von Verhandlungen ab?
Das Ziel ist, noch mit dieser Kommission damit zu beginnen, im nächsten Sommer stehen EU-Wahlen an. Ein Verhandlungsende hingegen sollte man nie fixieren, da bringt man sich nur selber in eine schlechte Position.
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Stichwort Horizon: In der Schweiz wird immer wieder über mutmassliche oder drohende Nadelstiche der EU debattiert. Wie viel ist davon effektiv geplant – und wieviel ist Resultat einer europäischen Planung, bei der die Schweiz schlicht vergessen geht?
Ich glaube nicht, dass die Schweiz so schnell vergessen geht. Wir sind immerhin der viertwichtigste Handelspartner der EU. Das ist nicht nichts.
Die Schweiz aus Horizon auszuschliessen ist ein klar politischer Entscheid. Die EU hat das als Hebel zurückbehalten, damit die Schweiz vorwärts macht bei anderen, eigentlich nicht verlinkten Fragen. Das Stichwort Nadelstich ist hier nicht falsch.
Was man aber sieht: Diese Kommission tritt entschlossener auf, die EU-Staaten agieren geeinter. Wenn man auf 26 Mitgliedstaaten Rücksicht nehmen muss, dann kann es passieren, dass die Schweiz nicht immer zuoberst auf der Prioritätenliste ist.
Sie ziehen im Herbst um. Ihr nächster Posten – Berlin – wird vermutlich ihr letzter sein…
So ist es geplant. Aber in unserem Beruf weiss man nie. (lacht)
…die Frage wäre gewesen: hätten Sie keine Lust gehabt auf einen ruhigen Posten im Süden?
Es gibt keine ruhigen Posten im Süden, die sind zum Teil deutlich schwieriger als im Norden – schauen Sie zum Beispiel auf unsere Vertretungen im Sahel. Die Welt ist generell unruhiger geworden. Abgesehen davon hätte ich sowieso keine Lust auf einen ruhigen Posten. Das entspricht mir einfach nicht.
Die letzten drei Jahre in Bern waren auch nicht ruhig. Aber ich denke, jetzt, am Ende der Sondierungen, ist es ein guter Moment, um im Europa-Dossier den Stab weiterzugeben. Und ich freue mich, als letzte Station wieder einen diplomatischen Posten in unserem Aussennetz zu übernehmen.
Und welche Themen werden Sie beschäftigen?
Natürlich die Situation in Europa und alle dazugehörigen Fragen wie Sanktionen, Kriegsmaterial – diese werden mich weiter begleiten. Die Energiezusammenarbeit wird sicherlich auch wichtig bleiben.
Dazu kommen all die bilateralen Geschäfte, die mit unserem grössten Nachbar wichtig sind. Wir haben über die grenzüberschreitenden Lebensräume gesprochen, das scheint mir wichtig. Es gibt viele Verbindungen über die Grenzen hinweg, die Fünfte Schweiz ist stark vertreten. Und ich freue mich, zum ersten Mal in einem Land zu sein, wo ich mich in meiner Muttersprache verständigen kann.
Zum Abschluss noch ein Zitat von Napoleon Bonaparte – was halten Sie davon: «Sollte ich etwas von Euerm Landamman fordern, das er mir nicht gewähren wollte, so würde ich ihm die Absendung von zwanzigtausend Mann drohen und er müsste gehorchen. Muss ich mich hingegen an den einzelnen Kanton wenden, so wird der Entscheid von einer Behörde zur andern geschoben, jede declinirt gegen mich ihre Kompetenz, und antwortet mir, kommt, esset unsere Berge. Zuletzt muss die Tagsatzung einberufen werden, dazu bedarf es zweier Monate Zeit, und während diesem Verschube zieht das Gewitter vorüber, und Ihr seid gerettet. Hierin liegt die wahre Politik der Schweiz.«
Sehr schön. (lacht)
Steckt da nicht ein Kern Wahrheit drin?
Napoleon hat sehr viel verändert in der Schweiz, sicher nicht nur zum Nachteil der Schweizerinnen und Schweizer. Aber ich denke hier geht er etwas zu weit – das Land funktioniert gut, die Bürger:innen sind nahe an der Politik, können mitbestimmen.
Der Vorwurf ist, dass man Gefahren von aussen einfach aussitzt.
Das mögen manche so sehen. In der Tat ist unser politisches System vielleicht etwas langsam. Aber genau darin liegt wohl auch der Erfolg unseres Landes.
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