Gesucht Bauingenieurin, gefunden Abir Awad aus Syrien
Der Mangel an Fachkräften in der Schweiz nimmt zu. Dabei gäbe es genügend: Arbeitslose im Alter von 50 und mehr Jahren – sowie Migrantinnen und Migranten. Eine dieser wenigen Hochqualifizierten, die eine Stelle fanden, ist die syrische Bauingenieurin Abir Awad.
Fachkräftemangel
Die Schweizer Wirtschaft leide unter einem Mangel an Fachkräften, klagen Arbeitgeber-Verbände seit einigen Jahren. Gemäss Job-Index des Arbeitsvermittlers Adecco und des Stellenmarkt-Monitors der Universität Zürich hat der Mangel 2018 in der ganzen Schweiz und über alle Berufsgruppen hinweg weiter zugenommen. Zwischen den Berufsgruppen gebe es aber grosse Unterschiede.
Während es im Bauingenieurwesen, in der Maschinen-, Hoch- und Tiefbautechnik sowie in der Informatik besonders viele Stellen zu besetzen gäbe, herrsche im Dienstleistungsbereich oder im Baugewerbe kaum Mangel. Dort gebe es deutlich mehr Stellensuchende als ausgeschriebene Stellen.
An Aufträgen mangelt es der Nordostschweizer Firma NRP Ingenieure AGExterner Link nicht, aber an Fachkräften. Auf ihre diversen Stelleninserate meldete sich niemand. Ingenieure sind in der Schweiz gefragte Leute. Sie stehen zuoberst auf der Liste des Fachkräftemangels.Externer Link Allein auf der Stellenvermittlungs-Plattform jobs.chExterner Link werden schweizweit derzeit mehr als 3700 Ingenieure gesucht. Ende September erhöhte die Schweizer Regierung deshalb die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen für Erwerbstätige aus Drittstaaten, also aus Ländern ausserhalb der EU/EFTA.
Das berufliche Potenzial im Inland werde ungenügend genutzt, bedauert das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS. Mit seinen FachstellenExterner Link unterstützt HEKS deshalb beruflich gut qualifizierte Migrantinnen und Migranten aus Drittstaaten dabei, deren Chancen auf dem Stellenmarkt zu verbessern. Abir Awad und die NRP-Ingenieure AG haben davon profitiert. «Wir sind sehr zufrieden, und es ist für uns eine Chance, mit so jemandem zusammenzuarbeiten», sagt Verwaltungsratspräsident Markus Rizzolli über die Bauingenieurin aus Syrien.
Flucht aus umkämpfter Stadt
Nach einem sechsmonatigen Praktikum erhielt Awad bei der NRP-Ingenieure AG im Juni 2018 eine 50%-Stelle. Ihr Studienabschluss an einer international anerkannten syrischen Universität entspricht formal einem Bachelor einer Schweizer Universität. In Syrien war sie bereits mehrere Jahre als Bauingenieurin tätig. «Aus ihren Bewerbungsunterlagen ging hervor, dass sie an ihrem neuen Wohnort in der Schweiz schon aktiv war. Beim Vorstellungsgespräch hatten wir einen sehr guten Eindruck von ihr», begründet Rizzolli die Anstellung. «Man merkt, dass Abir Awad ihre kulturelle Herkunft nicht versteckt, aber sich engagieren und integrieren will. Das war für uns ausschlaggebend. Und für die kurze Zeit, während der sie hier ist, spricht sie sehr gut Deutsch.»
Sie sei in einer Familie mit einer offenen Weltanschauung aufgewachsen, sagt die syrische Bauingenieurin. «Bei uns zuhause wurde viel gelesen. Das Ziel meiner Eltern war stets, dass wir sechs Kinder eine Ausbildung machten, um eines Tages auf eigenen Füssen zu stehen. Deshalb sind die Anforderungen in der Schweizer Berufswelt für mich nicht so fremd.»
Vor fünf Jahren flüchteten sie und ihr Mann mit den beiden Kindern aus Syrien in die Schweiz. Vor der Flucht arbeitete Awad in der Stadt Yabrud bei der Baubewilligungsbehörde der Gemeinde. Ihr Mann war als Kinderchirurg tätig.
Zwei Jahre lang hatten syrische Rebellen die Kontrolle über die strategisch wichtige Stadt. Aber im März 2014 wurde Yabrud von den Regierungstruppen des Assad-Regimes erobert, die Rebellen flohen. Ausländische Reporter berichteten damals, dass sie eine Stadt mit zerschossenen Fassaden und keine Spur von der Bevölkerung antrafen.
Awad will nicht über ihre Erlebnisse in der kriegsversehrten Stadt sprechen.
Engagement in der Freiwilligenarbeit
Dank eines auf fünf Wochen befristeten BeschlussesExterner Link der Schweizer Regierung vom September 2013 konnten damals alle syrischen Staatsangehörigen mit Verwandten in der Schweiz von Visaerleichterungen profitieren, unter ihnen auch die Familie Abir Awad. Sie liess sich in einer Vierzimmerwohnung in Waldkirch in der Nordostschweiz nieder. Im ersten Jahr besuchte Abir Awad Deutschkurse. «Allein in der Rolle der Hausfrau fühle ich mich nicht ausgelastet», sagt sie. Deshalb war sie von Anfang an auf der Suche nach Möglichkeiten, sich auch freiwillig zu engagieren und ihre Fähigkeiten einzusetzen. Zum Beispiel als Übersetzerin, als Kassiererin bei La Leche League, einer Organisation, die das Stillen in der Schweiz fördert, oder als Helferin bei der Lebensmittelausgabe «Brot lindert Not» der evangelischen Kirchgemeinde.
«Ich habe mir grosse Mühe gegeben, um meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.» Abir Awad
Dass sie Christin sei, habe ihr den Zugang zu gewissen kulturellen Gepflogenheiten erleichtert. Aber der Schlüssel für den Eintritt ins Erwerbsleben sei die Kenntnis der Sprache, sagt Awad. Von einer Sozialarbeiterin wurde sie auf das HEKS-Projekt MosaiQ aufmerksam gemacht. Dieses unterstützte sie bei der Suche nach einer Stelle. Aber bis sie angestellt wurde, musste sie rund fünfzig Bewerbungen schreiben, trotz akutem Mangel an Bauingenieuren.
Sie sei ausgesprochen glücklich und schätze es sehr hoch ein, dass ihr die NRP-Ingenieure das Vertrauen schenkten. «Aber ich habe mir auch grosse Mühe gegeben, um meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.»
In der Niederlassung Weinfelden der NRP-Ingenieure AG sei sie von allen 22 Mitarbeitenden und Vorgesetzten ohne Vorbehalte aufgenommen worden. «Ich hatte nie den Eindruck, dass mir jemand nicht gerne hilft.»
«Entscheidend ist die Intelligenz und das Interesse am Beruf.» Markus Rizzolli
Dass sich ihre Anstellung für den Arbeitgeber noch nicht auszahlte, ist ihr bewusst. Bisher konnte sie noch nicht ganz selbständig arbeiten. Aber kürzlich wurde ihr ein Projekt anvertraut, bei dem es um die Überprüfung und Bewertung von Kanalisationsleitungen geht und darum, wie diese zu sanieren sind. «Ich muss Kollegen oder Vorgesetzte immer wieder um Rat fragen», gibt sie offen zu.
«Wir hatten anfänglich einen Mehraufwand», sagt ihr Chef dazu. «Bauingenieure aus anderen Kulturen lassen sich nicht von heute auf morgen einsetzen.» Die Ausbildung und Fachkompetenz sei nicht vergleichbar mit jener von Bauingenieuren, die in der Schweiz ausgebildet und die auch die hiesigen Normen kennen würden. «Wichtig ist ein Grundverständnis, aber entscheidend ist letztlich die Intelligenz und das Interesse am Beruf.»
«Verlust für Schweizer Wirtschaft»
«Qualifizierte Migrantinnen und Migranten aus Drittstaaten sind auf dem Arbeitsmarkt mit Hindernissen konfrontiert, trotz Ausbildung und Berufserfahrung im Herkunftsland», sagt Olivia Payo Moreno, vom Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS). Das ist ein Verlust für die Schweizer Wirtschaft.
«Wir haben aber auch gemerkt, dass diese Fachkräfte nicht direkt im Arbeitsmarkt Fuss fassen können. Neben guten Sprachkenntnissen brauchen sie zum Teil auch Unterstützung bei der Diplomanerkennung oder bei der Suche nach ersten Berufserfahrungen in der Schweiz. Deshalb beraten und coachen wir seit 2017 diese Zielgruppe in allen unseren Regionen im Rahmen unseres Projekts HEKS MosaiQ.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch