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Wir vom Balkan sind auf den Pranger abonniert

Ivona Brdjanovic

Zunächst ignoriert, dann gelobt, anschliessend kritisiert: Balkan-Schweizerinnen und -Schweizer mussten sich in letzter Zeit einiges anhören. Eine persönliche Medienkritik von "da unten".

Wurde in Bosnien und Herzegowina geboren und lebt seit 1991 in Zürich. Die Schriftstellerin ging ihre Mutter besuchen und wurde von den plötzlich zunehmenden Coronafällen in den Balkanländern auf dem falschen Fuss erwischt – sowie auch über die Berichterstattung, die sie ärgerte.

Das Reiseverhalten von vielen Immigranten und deren Kindern ähnelt sich. Ich würde fast behaupten, es ist etwas Vererbtes. Vor allem Leute aus Ländern, die durch den Krieg zerfielen, wissen wovon ich spreche. Diese einstigen Heimaten sind Orte, an denen sich die Menschen – in der Regel Familien – wiedersehen. Nach dem Lockdown in der Schweiz und den sinkenden Zahlen im Mai und Juni beschlossen viele Immigranten, ihre zweite Heimat zu besuchen.

Es sollte also keine Überraschung sein, dass Menschen mit balkanischen Hintergründen in den Balkan fuhren. Es sollte also keine Überraschung sein, dass es sich nicht um wenige Menschen handelt, die mit balkanischen Hintergründen aus der Schweiz in diese Länder reisten. Es sollte auch keine Überraschung sein, dass die Angst um das Coronavirus abnahm – so war zum Beispiel Montenegro das erste Land in Europa, welches coronafrei war. Es sollte auch keine Überraschung sein, dass zu diesem Zeitpunkt das Bedürfnis die Eltern, Tanten, Onkel oder Cousinen zu sehen gross war.

«Es war ein Drüben und Ausserhalb, es betraf die Schweiz nur sekundär.»

Ich wunderte mich zu Beginn der Coronakrise, wie wenig der Balkan als problematisch, mitschuldig oder gar mitverantwortlich gehalten wurde. Die Schweizer Medien echauffierten sich über die Unfähigkeit der italienischen, schwedischen, englischen und amerikanischen Regierungen. Es war ein Drüben und Ausserhalb, es betraf die Schweiz nur sekundär. Tatsächlich scherzte ich mit einigen Freundinnen und Freunden darüber, dass keines unserer zweiten Heimatländer erwähnt wurde.

Zuerst Musterschüler…

So wurden die Grenzen zu Sommerbeginn geöffnet. Doch bereits einige Monate später – als ob wir es heraufbeschworen hätten – schmückte das Schlagwort «Balkan» die Überschriften in den Zeitungen. Dass die Regierungen da versagt hatten, war keine Überraschung, aber dieses Mal war es nicht nur ein Drüben: Die unbändigen Balkanausflügler haben das Virus zurück in die Schweiz geschleppt! Es handelte sich ganz klar um einen Vorwurf und eine Empörung.

Wie konnten sie es wagen?

Diese Pandemie zeigt uns noch deutlicher, wo unsere gesellschaftlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Sorgen liegen. Sie zeigt es nicht nur innerhalb unserer Länder, sondern weltweit. Sie zeigt unsere Ängste, Schwächen und es zeigen sich auch paranoide Züge, die ja auch menschlich sind. Trotzdem ist es verletzend, wenn immer wieder die gleiche Bevölkerungsgruppe medial an den Pranger gestellt wird.

Während also alle anderen ihre Kreuzfahrten, Wanderungen durch die Berglandschaft Nepals und Bioweindegustationsreisen abgesagt hatten, reiste diese eine Bevölkerungsgruppe bei der erstbesten Möglichkeit in den Balkan. Die Reisen in den Balkan wurden dabei stets als unüberlegte Ausflüge deklariert, ganz klar als ein Privileg, auf das man jetzt hätte verzichten können. So las man in den Medien von Balkanferien, Balkanreisen und Balkantouristen. In der Bewertung der Medien war es ein  klarer Fall von Leichtsinn und Rücksichtslosigkeit.

«Eine Fussfessel in Form einer Liste muss her.»

Es ist nicht zu leugnen, dass die Zahlen mittlerweile gestiegen sind, dass es in den letzten Wochen unglaublich viele Fälle gab, dass Serbien, Montenegro und der Kosovo nicht umsonst rot markiert sind und eine Reise nicht mehr zu empfehlen ist. Vielmehr ist die Art bedenklich, wie einer Gruppe von Menschen ihre Taten oder Handlungen – die wie gesagt kein bisschen überraschend sind – zum Vorwurf gemacht werden. Dabei wird der eigene Verzicht in den Vordergrund gestellt und es mündete schlussendlich in Strafpredigten. SRF, 20min, der Tages Anzeiger und die NZZ waren sich tagelang einig. Ganz weit vorne meldeten sich die üblichen Köpfe der SVP und verlangten orwellsche Gesetze und phantasierten über Verbote.

Natürlich verstehe ich das Grundprinzip der Angst und natürlich ist es mittlerweile alles andere als klug in den Balkan zu reisen, vor allem nach Serbien. Kürzlich staunte man in der Schweiz dann auch noch darüber, dass mittlerweile gar nicht so viele Serbinnen und Serben nach Serbien fahren, wie zu Beginn gedacht. «Fast alle Serben bleiben zu Hause» schrieb die NZZ. Der Grund sei die Aufnahme Serbiens in die Liste der Risikoländer. Es begegnet uns jedoch wieder die Haltung, dass es sich um Menschen handelt, die man in ihrer Wildheit ermahnen muss: Keine Serbin, kein Serbe, keine Schweizerin mit Familie in Serbien wäre auf die Idee gekommen, von sich aus in der Schweiz zu bleiben. Eine Fussfessel in Form einer Liste muss her.

…dann Sündenbock

Die frühzeitige Euphorie über die sinkenden Zahlen resultierte jedoch ganz klar aus Manipulation. So liess der serbische Staatspräsident Aleksandar Vucic viel zu früh und schlagartig nach einem rigorosen Lockdown alles wieder aufgehen – unmittelbar vor den Wahlen dieses hochkorrupten Regimes. Auch hier, keine Überraschung: Die Zahlen der Coronainfizierten explodierten.

In einem Fernsehauftritt drohte er mit einer Polizeistunde, wusch sich die Hände in Unschuld und nannte die Menschen im eigenen Land undiszipliniert. Junge Menschen aus allen Gruppierungen, politischen Bewegungen und Studierende gingen darauf auf die Strasse, um zu demonstrieren. Gegen ihn, seine Politik und die demagogische Regierung.

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Einige Tage später las ich in Schweizer Zeitungen, dass sich die serbische Bevölkerung auf der Strasse versammelt, weil sie nicht zu Hause sitzen wolle. Es werde gegen Corona-Politik und Corona-Massnahmen demonstriert. Also wieder rücksichtslose Selbstsucht. Und wieder ist es genau diese Bevölkerungsgruppe – unfähig das Virus ernst zu nehmen. Wieder sind sie die Unbändigen.

Es ist eine Bevölkerungsgruppe, die einen grossen Teil der Schweiz ausmacht und die Schweiz genauso als Heimat sieht, wie die zweiten und dritten und vielleicht sogar unzähligen Heimaten, die sich jeder Mensch – zum Glück! – selbst aussuchen darf. Ich wünsche mir also, dass die Schweizer Medienlandschaft an ihrer Haltung gegenüber diesen Menschen, gegenüber Menschen wie mir, etwas ändert. Denn sie ist rassistisch.

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