Strassburg bestätigt Urteil gegen die Schweiz im Fall Dogu Perinçek
Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt das Urteil der Vorinstanz: Die Schweiz hat mit der Verurteilung des türkischen Ultranationalisten Dogu Perinçek wegen Rassendiskriminierung die Meinungsäusserungsfreiheit verletzt.
In ihrem Urteil hält die Grosse Kammer fest, sie sei sich der Bedeutung der Ereignisse von 1915 bewusst und der Tragweite, welche diese für die Armenier hätten. Das ottomanische Reich hatte damals die Deportation und Ermordung von Armeniern angeordnet und durchgeführt. Dogu Perinçek hatte an öffentlichen Veranstaltungen in der Schweiz die Qualifizierung dieser Ereignisse als Genozid an den Armeniern bestritten.
Der Gerichtshof in StrassburgExterner Link sieht die Würde der damaligen Opfer und der armenischen Identität heute durch Artikel 8 der Menschenrechtskonvention geschützt. Der Artikel statuiert ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Die Grosse Kammer musste die Meinungsäusserungsfreiheit und den Artikel 8 der Konvention miteinander in Einklang bringen.
Wie bereits die Vorinstanz hält sie fest, dass es in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig sei, Perinçek wegen seinen Äusserungen zu verurteilen, um die Rechte der Armenier schützen zu können.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Der Gerichtshof überwacht seit 1959 die Einhaltung der im Jahr 1950 geschaffenen Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) in den 46 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Mio. Menschen. Jeder Mitgliedstaat stellt einen Richter. Die Schweiz hat die EMRK 1974 ratifiziert.
Um an den Gerichtshof in Strassburg zu gelangen, müssen alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft sein.
In der Schweiz ist das Bundesgericht in Lausanne die letzte Instanz.
Beschwerden können in 41 Sprachen eingereicht werden, Amtssprachen am Gerichtshof sind Französisch und Englisch.
Die Äusserungen von Perinçek über die Massaker an den Armeniern stehen gemäss dem Strassburger Gericht im Zusammenhang mit einer Frage öffentlichen Interesses. Sie seien nicht als Aufruf zu Hass oder Intoleranz zu werten.
In der Schweiz von allen Instanzen verurteilt
Der Ultranationalist und Präsident der türkischen Arbeiterpartei Dogu Perinçek hatte 2005 an drei öffentlichen Veranstaltungen in der Schweiz den Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 geleugnet.
Das Lausanner Strafgericht verurteilte ihn im März 2007 aus diesem Grund wegen Rassendiskriminierung gemäss Artikel 261bis des Strafgesetzbuchs. Die sogenannte Antirassismusstrafnorm war im September 1994 vom Volk angenommen worden. Sie zielt darauf ab, die Menschenwürde zu schützen. Die Schweizer Justiz hatte sich im Fall Perinçek auf Alinea 4 des Artikels gestützt: «Wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»
Gemäss Gericht basierten Perinçeks Reden auf einer rassistischen Grundlage, die nicht mit den historischen Fakten vereinbar sei.
Das Urteil wurde von allen Instanzen bis hinauf zum Bundesgericht bestätigt. Im Dezember 2013 stiess es der EGMR jedoch um: Die Schweiz wurde wegen Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit verurteilt.
Der EGMR hielt in seinem Urteil fest, man müsse in einer demokratischen Gesellschaft über sensible Fragen debattieren können, auch wenn dies nicht allen genehm sei. Zur juristischen Qualifikation des Genozids äusserte sich das Gericht nicht.
Auf Gesuch der Schweiz wurde der Fall nun auch von der Grossen Kammer des EGMR behandelt. Die Anhörung fand im Januar statt. Dabei wurden neben Perinçek und Vertretern von Armenien und der Schweiz verschiedene Nichtregierungs-Organisationen angehört.
Konsequenzen für die Schweiz
Das Urteil im Fall Perinçek könnte eine zurückhaltendere Anwendung der Antirassismusstrafnorm oder gar eine Gesetzesrevision nach sich ziehen. Zuvor müsse das Urteil aber eingehend analysiert werden, schreibt das Bundesamt für Justiz (BJ). Die rechtlichen Folgen seien deshalb derzeit noch nicht absehbar, hiess es in der Mitteilung des BJ vom Donnerstag. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zeige den hohen Stellenwert, welche dieser der Meinungsäusserungsfreiheit beimesse. In sechs Monaten müsse die Schweiz dem Ministerkomitee des Europarats mitteilen, wie sie das Urteil umzusetzen gedenke, schreibt das BJ. Das Komitee prüft die Umsetzung der endgültigen Urteile.
Die Schweiz müsse die Konsequenzen im Fall Perinçek «beseitigen» und auch Massnahmen ergreifen, um gleichartigen Verletzungen der Meinungsäusserungsfreiheit vorzubeugen. Das BJ betonte aber, dass die Entschädigungsforderungen vom türkischen Nationalisten Dogu Perinçek vom EGMR abgelehnt worden seien. Die Feststellung der Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit ist laut dem Gerichtshof eine ausreichende Wiedergutmachung.
«Meinungsäusserungsfreiheit nicht absolut»
Die Gesellschaft Schweiz Armenien reagiert auf das Strassburger Urteil «konsterniert und zutiefst schockiert». Sie erinnert daran, dass die Meinungsäusserungsfreiheit, welche die Schweiz laut dem EMRG verletzt hat, nicht «absolut» sei. Diese Freiheit dürfe nicht dafür genutzt werden, die Geschichte neu zu schreiben und einen Genozid zu leugnen oder zu rechtfertigen, teilt die Gesellschaft in ihrem Communiqué mit.
Der Verband der türkischen Vereine in der französisch-sprachigen Schweiz (Fatsr) zeigte sich seinerseits erfreut über das Urteil aus Strassburg. Es sei zu hoffen, dass der Entscheid die Begegnung und den Dialog zwischen Türken und Armeniern fördere.
Und die Türkische Gemeinschaft Schweiz (TGS) liess verlauten, die Beurteilung der Geschehnisse im Jahr 1915 sei Sache von Historikern und nicht von Parlamenten oder Richtern.
Causa Perinçek
Der Fall des türkischen Nationalisten Dogu Perinçek beschäftigt die Justiz seit zehn Jahren. Sie ist zum Schweizer Inbegriff des Spannungsfelds zwischen Meinungsäusserungsfreiheit und Genozidleugnung geworden.
– Mai, Juli und September 2005: Dogu Perinçek nimmt in der Schweiz an Versammlungen teil, wo er den Genozid an den Armeniern als «internationale Lüge» bezeichnet.
– 15. Juli 2005: Die Gesellschaft Schweiz-Armenien reicht eine Strafanzeige gegen Dogu Perinçek ein.
– 9. März 2007: Das Strafgericht in Lausanne verurteilt Dogu Perinçek wegen Rassendiskriminierung gemäss Artikel 261bis alinea 4 des Strafgesetzbuchs zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 100 Franken und einer Busse von 3000 Franken.
– 26. Mai 2007: Das Kassationsgericht des Kantons Waadt bestätigt das Urteil.
– 12. Dezember 2007: Das Bundesgericht weist die Beschwerde von Dogu Perinçek ab und bestätigt den Entscheid der Vorinstanz.
– 17. Dezember 2013: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kommt zum Schluss, dass die Verurteilung von Dogu Perinçek Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, also die Meinungsäusserungsfreiheit, verletzt.
– 11. März 2014: Die Schweiz zieht den Fall an die Grosse Kammer des EGMR weiter.
– 15. Oktober 2015: Die Grosse Kammer des EGMR bestätigt ihr erstes Urteil: Die Schweiz habe mit der Verurteilung die Meinungsäusserungsfreiheit von Perinçek verletzt.
(Quelle: sda)
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