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Menschenrechtsrat: Fundamental oder fundamental unzulänglich?

Human Rights Council conference room
Der Menschenrechtsrat trifft sich dreimal jährlich in Genf (oder, während der Pandemie, virtuell). Er hat 47 Mitglieder, die von der UNO-Generalversammlung gewählt werden. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Der Menschenrechtsrat tagt noch bis zum 13. Juli in Genf. Die Session steht im Zeichen der Rivalität zwischen den USA und China. Der Rat ist aber auch konfrontiert mit Kritik von Entwicklungsländern, die das Gefühl haben, oft zu Unrecht für Menschenrechts-Verletzungen am Pranger zu stehen. Wie funktioniert der Rat, was hat er erreicht und welche Reformen werden gefordert?

Die Arbeit des Menschenrechtsrats reflektiert oft die geopolitischen Spannungen in der Welt.

Am 22. Juni, nur einen Tag nach Beginn der aktuellen Session, schlossen sich die USA mehr als 40 Ländern in einer von Kanada lancierten Erklärung an, in der die «grosse Besorgnis» über chinesische Menschenrechts-Verletzungen gegen die muslimische Minderheit der Uiguren zum Ausdruck gebracht wird. Beijing wird in der Erklärung aufgefordert, «unabhängigen Beobachtern sofortigen, bedeutsamen und ungehinderten Zugang nach Xinjiang zu gewähren».

Die USA unterstützten auch eine Erklärung, in der es hiess, dass «nur demokratische Formen der Regierungsführung in der Lage sind, ein Umfeld zu schaffen, das langfristig Frieden und Sicherheit fördert», doch dass einige Staaten die «Grundpfeiler der Demokratie» in Frage stellten.

Mit der Rückkehr Washingtons in den Rat unter Präsident Joe Biden sehe man «eine Rückkehr zur Grossmacht-Politik», sagt Marc Limon, Gründer und Direktor der unabhängigen Menschenrechts-Denkfabrik Universal Rights GroupExterner Link. Er sagt, dies sei durch die Entwicklungen am Anfang dieser Session «verkörpert» worden.

China und pro-chinesische Länder reagierten auf die Kritik mit Erklärungen, die besagten, dass die nationale Souveränität respektiert werden sollte, und die Demokratie von lokalen Bedingungen abhängen sollte. «Chinas Vision einer ‹kontrollierten Demokratie› ist bei einigen afrikanischen und asiatischen Führern sehr beliebt», sagt Limon, «weil es bedeutet, dass sie für immer an der Macht bleiben werden».

Limons Meinung nach findet der derzeitige Kampf in der Welt nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus statt, sondern zwischen «Demokratie und Autokratie», was sich auch im Menschenrechtsrat spiegle.

Die ehemalige Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey machte sich im September 2005 vor der UNO-Generalversammlung für die rasche Schaffung des MenschenrechtsratsExterner Link stark, um die weithin diskreditierte und hoch politisierte Menschenrechts-Kommission von 1946 zu ersetzen. Die UNO hatte das Konzept, das auf einen Vorstoss Berns von 2003 zurückging, kurz zuvor im Grundsatz angenommen.

Im März 2006 stimmt die UNO-Generalversammlung der Gründung des neuen Gremiums offiziell zu. Die erste Sitzung des Rats fand im Juni 2006 an seinem Sitz in Genf statt. Der Rat berichtet direkt an die UNO-Generalversammlung.

Der Rat besteht aus 47 Mitgliedsstaaten, die von der UNO-Generalversammlung mit absoluter Mehrheit gewählt werden. Die Mitglieder werden nach regionalen Blöcken gewählt: afrikanische Staaten (13), asiatisch-pazifische Staaten (13), lateinamerikanische und karibische Staaten (8); westeuropäische und andere Staaten (7), und osteuropäische Staaten (6). Der derzeitige Präsident des Rats ist Nazhat Shameem Khan von den Fidschi-Inseln.

Nicht alle Sitze stehen zur gleichen Zeit zur Wahl. Es gibt derzeit Bestrebungen, die Wahlen kompetitiver zu gestalten, indem z.B. kleinere Staaten mit relativ guter Menschenrechtsbilanz zur Kandidatur ermutigt werden. 

Der Menschenrechtsrat tagt mindestens dreimal im Jahr. In Krisenfällen kann er auch Sondersessionen einberufen. Unabhängige Ermittler und Berichterstatterinnen befassen sich im Auftrag des Rats mit Situationen wie Syrien, Nordkorea, Myanmar oder dem Südsudan, aber auch mit thematischen Fragen wie den Rechten von Behinderten und LGBT-Menschen. Die Resolutionen des Rats sind nicht rechtsverbindlich, haben aber moralische Autorität.

Fordert der Rat harte UNO-Massnahmen, wie z. B. Syrien, Myanmar oder Sri Lanka an den Internationalen Strafgerichtshof zu verweisen, kommt letztlich der UNO-Sicherheitsrat zum Zug, in dem die ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien ein Veto haben.

Kritik der Kritisierten

Das Vorgehen Chinas kommt zu einem Zeitpunkt, in dem Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika, das Gefühl haben, die Politik des Menschenrechtsrats, Staaten beim Namen zu nennen und anzuprangern («naming and shaming›) sei selektiv, politisiert und richte sich in unfairer Weise gegen sie.

Während viele von ihnen verdienten, dass man wegen Menschenrechts-Verletzungen mit dem Finger auf sie zeige, hätten sie bis zu einem gewissen Grad Recht mit ihrer Sicht der Dinge, sagt Limon.

Eine Karte im JahresberichtExterner Link seiner Organisation zu den Aktivitäten des Menschenrechtsrats im Jahr 2020 zeigt ein «massives Übergewicht, sich auf Israel/Palästina und auf Afrika zu konzentrieren». Andererseits gab es zum Beispiel noch nie Resolutionen zu China oder den USA.

Und trotz der jüngst eingebrachten Erklärung zu Xinjiang hält Limon es für unwahrscheinlich, dass es im Verlauf der aktuellen Sitzung eine Resolution zu China geben wird. China sei «zu mächtig» und habe zu viele Verbündete.

Und dann ist da noch Israel. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump warf dem Menschenrechtsrat vor, anti-israelisch zu sein. Bis zu einem gewissen Grad mag er Recht gehabt haben, da sich der Rat in seinem «Tagesordnungspunkt 7» nur auf Israel und Palästina konzentriert.

Das bedeutet, dass Israel im Gegensatz zu allen anderen Ländern in jeder Ratssitzung zur Sprache kommt, wobei sich vor allem muslimische Staaten zusammentun, um es anzugreifen. Ein Ergebnis davon ist, dass Israel das Ziel von mehr als 70 Resolutionen wegen Menschenrechts-Verletzungen in Palästina war.

Gewisse Beobachter, so Limon, argumentieren, diese Situation sei unfair. Andere finden, dass Israel wegen seines Status› als Besatzungsmacht in einer eigenen Kategorie behandelt werden sollte.

Rufe nach Reformen

Als die damalige US-Regierung unter Trump vor drei Jahren ihren Rückzug ankündigte, bezeichnete sie den Rat als «anti-israelisch», «heuchlerisch» und als einen «Sumpf politischer Voreingenommenheit». Trump zog sich in der Mitte einer dreijährigen Amtszeit der USA als Mitglied im Rat zurück und stellte die Finanzierung ein.

Jetzt kehrte Washington unter Präsident Biden als Beobachter in den Menschenrechtsrat zurück, strebt aber weiterhin Reformen an. Der Beobachterstatus bedeutet, dass die USA zwar an den Beratungen teilnehmen, aber nicht abstimmen können.

Trumps ehemalige UNO-Botschafterin Nikki Hailey hatte den Rat sogar beschuldigt, ein «Beschützer von Menschenrechts-Verletzern» zu sein. Das scheint schockierend, aber es ist wahr, dass sich unter den aktuellen MitgliedernExterner Link des Rats zum Beispiel Länder wie China, Russland, Kuba, Venezuela und Eritrea finden, die nicht für eine gute Menschenrechts-Bilanz bekannt sind.

Die Sorge über grobe Menschenrechts-Verletzer im Rat ist nicht neu. Seine Vorgängerin, die UNO-Menschenrechtskommission, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Mandat gegründet, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 aufrechtzuerhalten.

Zunehmende Kritik über den Einfluss von Menschenrechts-Verletzern in dieser Kommission hatten zu einer Reform geführt, bei der die Schweiz eine treibende Kraft gewesen war. Im Jahr 2006 wurde die diskreditierte Kommission durch den Menschenrechtsrat ersetzt.

Überwachung und Auswahl der Ratsmitglieder sollten theoretisch strenger sein als bei der ehemaligen Kommission. Zudem kann die Generalversammlung ein Mitglied vom Rat ausschliessen, das sich schwerer Menschenrechts-Verletzungen schuldig gemacht hat.

Errungenschaften

Der Menschenrechtsrat soll sowohl Raum für Debatten, als auch für Taten bieten. Jeremy Dear, Vize-Generalsekretär der Internationalen Journalisten-Föderation, sagte in einem früheren Interview mit SWI swissinfo.ch, «es ist eine einmalige Chance, dass sowohl der Staat, der angeblich für die Verfolgung verantwortlich ist, als auch andere Staaten, die Einfluss auf ihn haben könnten, zur gleichen Zeit im selben UNO-Gebäude sind; nicht um eine sofortige Lösung zu finden, sondern um den Prozess in Richtung einer Lösung zu starten».

Natürlich war eine der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, dass Gespräche von Angesicht zu Angesicht weitgehend verhindert wurden, weil die Sitzungen virtuell stattfanden.

Wie bei anderen Organisationen im internationalen Genf und anderswo bleibt abzuwarten, ob und wann es wieder «normal» wird. Die aktuelle Session des Rats ist «hybrid», das heisst eine Mischung aus virtuellen und persönlichen Treffen.

Trotz seiner kontroversen Bilanz hat der Menschenrechtsrat zahllose wertvolle Berichte über Menschenrechts-Verletzungen auf der ganzen Welt erstellt. In Ermangelung einer nationalen oder internationalen Justiz hat er auch Mechanismen eingerichtet, um Beweise für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien, Myanmar und zuletzt Sri Lanka zu sammeln, die möglicherweise später vor Gericht verwendet werden können.

Menschenrechts-Organisationen sind zwar oft kritisch, was den Rat angeht, sagen aber, dass die Institution immer wieder Untersuchungen durchführt und auf Verletzungen der Menschenrechte in der ganzen Welt hinweist, über die wir sonst vielleicht nichts wissen würden.

Die akribischen Untersuchungen mögen nicht immer – oder nicht einmal oft – zu raschen Veränderungen führen. Aber sie stellen sicher, dass niemand sagen kann, nichts gewusst zu haben. Die gesammelten Beweise für Verletzungen und Verstösse werden aufbewahrt. Und könnten, wie zum Beispiel im Fall der Untersuchungskommission des Rats zu Syrien, zu einem späteren Zeitpunkt zu Strafverfolgungen wegen Kriegsverbrechen führen, wie Vertreter von Menschenrechts-Organisationen in einem früheren Interview mit SWI swissinfo.ch umrissen.

Der Menschenrechtsrat ist zweifellos sowohl mit Fehlern behaftet, als auch von fundamentaler Bedeutung. Und während die Rufe nach Reformen und das interne politische Taktieren andauern, kann er immer noch für Aufsehen sorgen.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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