Flüchtlinge und Einheimische lernen das Zusammenleben
Beim Blick auf eine Landkarte könnte Bex einfach eine etwas verschlafene Schweizer Stadt sein, bekannt vor allem für ihre Salzminen. Doch sieht man genauer hin, findet man im Zentrum der Stadt einen afrikanischen Laden und in den Strassen sind Menschen unterschiedlichster Herkunft unterwegs.
Die kleine Stadt war eine der ersten in der Region, in der ein Zentrum für Asylsuchende eingerichtet wurde – 1982. Heute beträgt der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer unter den 7731 Einwohnerinnen und Einwohnern rund 33%, was über dem nationalen Durchschnitt liegt. Kann man aus den Erfahrungen in Bex Lehren ziehen für das Zusammenleben anderswo im Land?
«Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber wir sind eine kleine Stadt und viele werden uns aufgedrängt, wenn die Städte entlang dem See [Genfersee] sie nicht wollen», erklärte eine ältere Einwohnerin, die ihr ganzes Leben in Bex wohnte und ihren Namen nicht genannt haben will. «Es ist zu viel.» Manchmal habe man kaum noch das Gefühl, in der Schweiz zu sein, wenn man das Haus verlasse. «Wir befinden uns am Fuss des Kantons, sind so etwas wie der Abfallkübel.»
Der Zug aus Lausanne nach Bex fährt dem Genfersee entlang ins Rhonetal mit seinen hohen Bergen. Kommt man in die kleine Stadt, ist man von Bergen umgeben. Es gibt eine Industriezone, einige Dienstleistungsbetriebe, Läden und Restaurants im Zentrum. Bex hat wegen des Salzbergwerks und der Landschaft auch ein touristisches Potential. Der Umgebung des Bahnhofs täte etwas Entwicklung nicht schlecht.
Auf dem Weg ins Stadtzentrum, wo es einige malerische alte Gebäude gibt, kommt eine Gruppe von Schulkindern die Strasse herunter. Sie sind verschiedenster Herkunft und Hautfarbe und scheinen kein Problem damit zu haben, miteinander auszukommen.
Eine turbulente Vergangenheit
Es gab eine Zeit, in der es in Bex zwischen den verschiedenen Gruppen in der Bevölkerung grosse Spannungen gab, vor allem in den Jahren 2005 und 2006. Gemeindesekretär Alain Michel erinnert sich gut.
«Das Problem war vor allem die Präsenz von Drogenhändlern», sagt er. «Die Bevölkerung mochte es nicht, afrikanische Dealer in den Strassen zu sehen. 2006 hatten wir einen massiven Polizeieinsatz… und es gab auch eine Person, die rassistische Graffitis an Mauern sprayte, was einige Unruhe verursachte.
Aber die Menschen im Asylzentrum seien nicht die Ursache des Problems gewesen. «Die Gefahr kam daher, dass die Bevölkerung eine Verbindung machte zwischen den Flüchtlingen im Zentrum und jenen Leuten, die auf der Strasse mit Drogen handelten.»
Es gab damals eine kommunale Initiative der Schweizerischen Volkspartei, die eine Schliessung des Asylheims verlangte. Die Bevölkerung stimmte der Initiative zu, die kantonalen Behörden lehnten die Umsetzung jedoch ab.
Heute hat die Schweizerische Volkspartei 11 Abgeordnete im 60-köpfigen Gemeindeparlament, wo die politischen Kräfte ziemlich gleichmässig zwischen Linken, Rechten und dem Zentrum verteilt sind. Die 2009 gegründete lokale (Zentrums)-Partei «Avançons», welche die Links-Rechts-Spaltung in Bex überwinden und die Stadt weiter entwickeln will, hat 13 Sitze.
Das Problem mit dem Drogenhandel wurde ausgemerzt und Lehren aus den Erfahrungen dieser Zeit gezogen. Dennoch kann es von Zeit zu Zeit erneut zu Spannungen kommen. Es könne zum Beispiel «Verständigungs- oder Anpassungsprobleme» geben, etwa wenn aufs Mal eine grössere Zahl Menschen aus anderen Kulturkreisen in ein Wohnhaus einziehe, erklärte Gemeindesekretär Michel. Das könne zu «Schwierigkeiten führen».
Lukembisa Kapela, der aus der heutigen Demokratischen Republik Kongo stammt, lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Bex und scheint sich erfolgreich integriert zu haben. Er war 1984 aus dem damaligen Zaire unter der Herrschaft Mobutus in die Schweiz geflohen, wegen ihres «Rufs als Gastland» – und wegen einer Jobmöglichkeit in Bex gelandet.
Hart zu arbeiten, früh mit dem Velo zur Arbeit zu fahren und für die lokale Fussballmannschaft in der nationalen Liga zu spielen, habe ihm geholfen, in der Gemeinde akzeptiert zu werden, sagte Kapela.
Er heiratete eine Schweizerin, gründete in Bex eine Familie und erhielt schliesslich auch die Schweizer Staatsangehörigkeit. Heute fühle er sich «sowohl kongolesisch als auch schweizerisch.»
Er denkt allerdings nicht, dass die Situation zwischen Einheimischen und Asylsuchenden in Bex perfekt ist. «Es gibt Leute, die zu mir sagen ’sieh sie Dir an … zum Glück gibt es Leute wie Dich». Was solche Einheimischen am meisten störe, sagte Kapela, sei, dass Asylsuchende «herumhängen und nicht arbeiten».
Viele Flüchtlinge und Migranten wollen zwar arbeiten, können aber nichts finden. Und auf dem Arbeitsmarkt herrscht Konkurrenz. «Kleinere Jobs finden wollen auch unsere Kinder, die studieren, und Leute aus der Europäischen Union. Ich denke, für Asylsuchende ist es sehr schwierig», erklärte Anne-Catherine Rohrbach, die Leiterin der GARExterner Link (Groupe d’appui aux réfugiés), einer lokalen Gruppe, die sich in Bex um die Unterstützung für Flüchtlinge kümmert.
Das Problem Arbeit
«Es gibt viele, die deshalb in eine Depression stürzen» erklärt Rohrbach gegenüber swissinfo.ch weiter. «Dies gilt vor allem für Männer, weil es nicht in ihrer Kultur liegt, zu Hause zu bleiben.»
Mahmoud Malas aus Syrien hat das durchgemacht. «Zu Hause bleiben zu müssen, ist tödlich», sagte er gegenüber swissinfo.ch.
Aber wie Kapela «setzte er sich auf ein Velo» und suchte überall nach Arbeit. Heute arbeitet er mit seiner Frau Hana in einer Konditorei in der nahe gelegenen Stadt Montreux, wo er Spezialitäten aus dem Nahen Osten verkauft. Er und seine Frau Hana Kaourdi flohen wegen des syrischen Krieges in die Schweiz.
Arbeit zu finden, ist oft damit verbunden, wie schnell oder gut jemand die lokale Sprache (im Kanton Waadt Französisch) lernt. Und welche Art von Aufenthaltserlaubnis jemand erhält und ob die Fachkenntnisse, die jemand hat, in der Schweiz anerkannt werden.
Je nach Flüchtlings- oder Asylstatus erhält man unterschiedliche Bewilligungen; in gewissen Fällen dürfen die Betroffenen offiziell gar nicht arbeiten.
Oft ist die Sprache die erste Herausforderung. «Ich erinnere mich, wie ich in der Schule weinte, weil ich nichts verstand», erklärte eine junge Frau aus Eritrea, die es vorzog, dass ihr Name hier nicht genannt wird. «Ich sagte mir damals, dass ich Französisch lernen muss, wenn ich vorankommen will.» Sie war 15 Jahre alt, als ihre Familie aus der Diktatur ihres Landes flüchtete. Heute spricht sie fliessend Französisch und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester.
Ihr Vater jedoch hat noch immer keine Arbeit und spricht auch weniger gut Französisch. «Ich glaube, für junge Leute ist es einfacher als für die ältere Generation», sagte sie zu swissinfo.ch. «Es ist hart für ihn, denn er ist ein Mann, der sein Leben lang gearbeitet hatte.»
Aus Erfahrungen gelernt
Was die Aufnahme und den Umgang mit Flüchtlingen und deren Integration betrifft, handle es sich um einen Beruf, der «Stück um Stück aufgebaut werden musste», erklärte Christine Blatti Villalon, eine Sektionsdirektorin der Waadtländer Migrationsbehörde EVAMExterner Link (Etablissement Vaudois d’Acceuil des Migrants).
Vor allem aus den Jahren, in denen es grosse Spannungen gegeben hatte, seien Lehren gezogen worden. «Vor etwa 20 Jahren wurde ein Dialog-Komitee ins Leben gerufen, das dann für eine gewisse Zeit aufgegeben wurde, seit 2006 aber wieder regelmässig zusammen kommt», erklärte Blatti Villalon gegenüber swissinfo.ch.
«In dem Komitee sind die Behörden und verschiedene Mitglieder der Gesellschaft in Bex vertreten – Kirchen, Geschäfte, Polizei, Schulen und so weiter. Es ist wichtig, diesen ständigen Dialog zu führen.»
Gemeindesekretär Michel sagte, das Komitee sei jüngst beigezogen worden, nachdem einige Mieter und Vermieter sich bei der Gemeinde über Lärm in den Wohnungen und «eine eher ungewöhnliche Art der Teppichreinigung» beklagt hätten.
«Wir entschieden uns, ein Treffen aller Bewohner und Bewohnerinnen einzuberufen und erinnerten alle – denn es gab auch Schweizer und Schweizerinnen, die in der Nacht Lärm machten – an die Regeln des Zusammenlebens in einem Wohnhaus», erklärte er. «Die Diskussion mit Übersetzung dauerte etwa eine Stunde und verlief sehr gut. Am Ende hatten wir den Eindruck, dass die Leute einander besser verstanden. Sie planten sogar eine Nachbarschaftsveranstaltung, um sich gegenseitig besser kennenzulernen.»
Auch die Zusammensetzung der Menschen, die im EVAM-Flüchtlingszentrum untergebracht sind, hat sich verändert. Zur Zeit der grossen Spannungen lebten viele junge, alleinstehende Männer oft über längere Zeit dort.
Heute liegt der Schwerpunkt des Zentrums bei Aktivitäten zur Förderung der Integration während einer ersten, begrenzten Zeitspanne – zudem leben heute viel mehr Frauen und Kinder dort. Die Einwohner und Einwohnerinnen von Bex sind zu regelmässigen Treffen mit den Bewohnern und Bewohnerinnen des Zentrums eingeladen. Organisiert werden diese Zusammenkünfte von der Flüchtlingsunterstützungsgruppe GAR.
«Ein Ziel unserer Gründer war es, die Leute aus Bex und die Menschen, die im Zentrum untergebracht sind, zusammen zu bringen, um die Unterstützung und gegenseitige Anerkennung zu fördern», erklärte GAR-Präsidentin Rohrbach. Der Verein, der schon 35 Jahre besteht, sei zurzeit sehr aktiv und habe viele Mitglieder aus der lokalen Gemeinschaft, sagte sie.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch