Mindeststeuersatz für Unternehmen: Warum die Schweiz einen Rückzieher machen will
Im Juni stimmte das Schweizer Stimmvolk mit überwältigender Mehrheit einem globalen Abkommen zur Einführung eines Mindeststeuersatzes von 15% für Unternehmen zu. Die Regierung erwägt nun, die Umsetzung zu verschieben. Das sind die Gründe.
Es ist selten, dass die Schweiz eine Vorreiterrolle spielt, wenn es darum geht, die Zügel für grosse Unternehmen zu straffen. Aber das Land war ein Musterschüler bei der Umsetzung eines globalen Abkommens, das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) angeführt wurde, um gegen Steuermissbrauch vorzugehen – indem ein Mindestsatz von 15% für Unternehmen festgelegt wurde.
«Ich freue mich, dass die gesamte internationale Gemeinschaft diese Vereinbarung umsetzt, auch ein Land wie die Schweiz», sagte Pascal Saint-Amans, Leiter des OECD-Zentrums für Steuerpolitik und -verwaltung, der das Abkommen nach der Abstimmung im Juni vorangetrieben hatte. «Trotz ihrer besonderen Geschichte im Steuerbereich hat die Schweiz die Vorteile der Zusammenarbeit mit anderen Ländern klar erkannt.»
Am 18. Juni stimmten 78,5% der Schweizer:innen für eine Verfassungsänderung, die einen Mindeststeuersatz von 15% für Unternehmen vorsieht. Dies war die sechsthöchste Zustimmungsrate bei einer Volksabstimmung seit 20 Jahren.
Die Befürwortenden argumentierten, die Vorlage würde dazu beitragen die Wahrnehmung der Schweiz als Steuerparadies zu ändern. Obwohl das Land viele Steuerprivilegien abgeschafft hat, verfügt es immer noch über einige der niedrigsten Körperschaftssteuersätze der Welt – insbesondere im Kanton Zug, der Heimat von multinationalen Grosskonzernen wie Glencore, wo der gesetzliche Steuersatz bei 11% liegt.
Die Regierung plante, das Abkommen ab dem 1. Januar 2024 in Kraft zu setzen. Doch nun mehren sich die Rufe nach einem Aufschub der Reformen. Am 10. November empfahl die Ständeratskommission für Wirtschaft und Abgaben eine Verschiebung um mindestens ein Jahr. Ein Sprecher des Eidgenössischen Finanzdepartements sagt gegenüber SWI, dass «die Regierung in den nächsten Wochen darüber entscheiden wird, ob die Reform verschoben werden soll».
Auch Wirtschaftsverbände, die die Abstimmung über die Mindeststeuer unterstützt hatten, haben inzwischen davor gewarnt, dass ein Festhalten an den Plänen dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden würde.
Die Schweiz als Einzelkämpferin
Ein wichtiger Grund für den Sinneswandel ist, dass viele andere Länder nicht bereit sind, das Abkommen bis 2024 umzusetzen. Nur ein Viertel der 138 Länder, die dem OECD-Mindeststeuerabkommen im Oktober 2021 beigetreten sind, wollen es im nächsten Jahr umsetzen. Dazu gehören die Europäische Union, Australien, Japan, Südkorea und Kanada.
Neben den USA, bei denen viele bezweifelten, dass sie bis 2024 bereit sein würden, planen auch grosse Wirtschaftsakteure wie China, Indien und Brasilien sowie wichtige Wirtschaftsstandorte wie Singapur, Hongkong und die Vereinigten Arabischen Emirate nicht, das Abkommen im nächsten Jahr umzusetzen.
Wirtschaftslobbygruppen argumentieren, dass Länder, die die Mindeststeuer nicht einführen, plötzlich niedrigere Steuersätze als die Schweiz hätten – und damit attraktivere Standorte wären.
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Trotz Reformen: Der Ruf der Schweiz als Steueroase hält sich hartnäckig
Dies liegt zum Teil daran, wie die Regeln konzipiert wurden, die eine «Zusatzsteuer» – oder was die Schweizer Regierung als Ergänzungssteuer bezeichnet, wenn der Steuersatz unter dem Mindestsatz von 15% liegt – zulassen. Wenn die Schweiz diese Abgabe nicht erhebt, können andere Länder dies tun.
Im Vorfeld der Abstimmung im Juni argumentierten die Befürwortenden, darunter die Schweizer Finanzministerin Karin Keller-Sutter, dass das Land das Steuerabkommen schnell umsetzen müsse, um zu vermeiden, dass Millionen an Steuergeldern ins Ausland «verschenkt» würden.
«Die Regeln wurden so gestaltet, dass kein Land langfristig der OECD-Mindestbesteuerung entgehen kann», erklärt ein Sprecher des Verbands multinationaler Unternehmen, SwissHoldings, gegenüber SWI. Da jedoch immer mehr Länder zögern, machen sich die Verbleibenden Sorgen.
«Die wirtschaftlichen Nachteile für die Schweiz werden zunehmen, wenn nur einige wenige konkurrierende Länder die Mindeststeuer im Jahr 2024 einführen», so SwissHoldings.
Nicht enden wollende Verhandlungen
Der abnehmende Enthusiasmus für das, was 2021 als «historischer Meilenstein» gefeiert wurde, lässt sich zum Teil mit den praktischen Herausforderungen bei der Umsetzung eines so komplexen Abkommens erklären. Ein weiterer wichtiger Faktor ist jedoch, dass sich die Regeln selbst in den letzten zwei Jahren geändert haben.
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Schweiz fürchtet Mindest-Steuersatz für Unternehmen
Erst im Juli dieses Jahres, einen Monat nach der Schweizer Abstimmung, verabschiedete die OECD – auf Druck der USA – die «Safe Harbor»-Übergangsregel, die einem Unternehmen in einem Land, in dem der gesetzliche Steuersatz mindestens 20% beträgt, die Befreiung von zusätzlichen ausländischen Steuern bis mindestens 2026 ermöglicht.
Der US-Körperschaftssteuersatz beträgt zwar 21%, aber durch Steuergutschriften kann er auf unter 15% gesenkt werden. Diese Übergangsmassnahme verschafft dem US-Kongress mehr Zeit für eine Einigung in einer Frage, die zu einem politischen Brennpunkt geworden ist.
Nach Ansicht der Wirtschaftslobby untergräbt dieser Schritt die Grundsätze der Mindeststeuer, da er es Ländern mit hohen Steuersätzen (zumindest auf dem Papier) ermöglicht, über Zugeständnisse weiterhin effektive Steuersätze von weniger als 15% anzubieten, ohne dass andere Länder die Zusatzsteuer anwenden können.
Viele Länder wollen nun lieber abwarten, wie sich die Dinge entwickeln, bevor sie auf Reformen vor 2026 drängen.
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Schweiz profitiert von Steuer-Deal
«[Wir gingen] davon aus, dass die OECD ab Mitte 2023 sämtliche wichtigen Umsetzungsvorgaben erarbeitet und publiziert hat», schreibt SwissHoldings in einem BriefExterner Link an die Eidgenössische Steuerverwaltung. «Neben Verspätungen bei neuen Vorgaben nimmt die OECD permanent Anpassungen bereits erlassener Ausführungsbestimmungen vor.»
Aktivist:innen für Steuergerechtigkeit argumentieren jedoch, dass die Unterstützung für das OECD-Abkommen bereits vorher ins Wanken geriet. Ein zentraler Streitpunkt war der Steuersatz von 15%, den viele für zu niedrig hielten, um Gewinnverlagerungen einzudämmen, da viele Entwicklungsländer wesentlich höhere Sätze haben.
«Dies war ein Zeichen dafür, dass die Länder des Globalen Südens keinen Einfluss auf die Ergebnisse der OECD hatten», sagt Dominik Gross, der bei der Nichtregierungsorganisation Alliance Sud für Steuerpolitik zuständig ist.
Es wurden auch einige Vorbehalte und «Schlupflöcher» aufgenommen, die reiche Länder begünstigen, wie z.B. eine Ausnahmeregelung für die Substanz, die es den Ländern erlaubt, den Steuersatz unter 15% zu halten, solange in dem Land eine echte Geschäftstätigkeit stattfindet.
«Die ganze Idee, zusätzliche Einnahmen umzuverteilen und die Gewinnverschiebung in Niedrigsteuergebiete zu stoppen, wurde durch viele der Regeln untergraben», sagt Gross.
Einem im Oktober veröffentlichten BerichtExterner Link der in Paris ansässigen EU-Steuerbeobachtungsstelle zufolge würde die globale Mindeststeuer in ihrer jetzigen Form nur einen Bruchteil der ursprünglich für 2021 erwarteten Steuereinnahmen bringen. Nur 5% mehr Steuereinnahmen würden erzielt, gegenüber 9% bei einem Steuersatz von 15% ohne Schlupflöcher, und mehr als 16% bei einem Steuersatz von 20%.
Wachsende Skepsis gegenüber dem gesamten Prozess
Im Zuge der Änderungen wächst die Skepsis nicht nur gegenüber den Regeln selbst, sondern auch gegenüber dem gesamten Prozess und der Fähigkeit der OECD, die Beteiligten an einen Tisch zu bringen.
SwissHoldings erklärt gegenüber SWI, es bestehe die Gefahr, dass das Mindeststeuerabkommen weltweit überhaupt nicht umgesetzt werde. Wahrscheinlicher sei jedoch, «dass die Regeln so weit verwässert werden, dass sie am Ende niemandem schaden und die Mindeststeuer von 15% nur auf dem Papier eingehalten werden muss».
Während die OECD-Mitglieder, zu denen 39 meist wohlhabende Länder gehören, über die Regeln feilschen, fühlen sich viele Nicht-OECD-Mitglieder und zivilgesellschaftliche Gruppen übergangen.
«Die OECD hat ein inklusives Rahmenwerk eingeführt, um auch Länder einzubeziehen, die nicht Mitglied sind. Aber das Sekretariat hat die Interessen der Mitglieder im Blick, die aus den nördlichen, reichen Ländern stammen», so Gross.
Als Reaktion darauf gibt es jetzt eine parallele Anstrengung bei den Vereinten Nationen. Am 22. November unterstützten 125 UN-Mitgliedstaaten eine von afrikanischen Staaten eingebrachte UN-Resolution zur Förderung einer «umfassenden und effektiven Steuerkooperation». Die Schweiz und die USA sowie andere reiche Länder lehnten die Resolution ab, aber sie wurde von Aktivist:innen und vielen Wirtschaftswissenschaftler:innen gelobt.
SwissHoldings weist zwar auf die Herausforderungen hin, die eine Zusammenarbeit mit der UNO mit sich bringt, zweifelt aber nicht, dass diese eine wichtigere Rolle spielen könnte: «Wenn die OECD, die bisher im Steuerbereich führend war, [mit den Pfeilern des Steuerabkommens] scheitern würde, könnte die UNO im Steuerbereich an Bedeutung gewinnen.»
Editiert von Marc Leutenegger. Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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