Mit einem Volksentscheid aus dem Dilemma?
Kann die Schweiz die Zuwanderung bremsen und die bilateralen Beziehungen mit der EU retten? Oder muss sie sich für das eine oder andere entscheiden? Während die Regierung 14 Monate nach dem Ja zur "Initiative gegen Masseneinwanderung" (MEI) das scheinbar Unmögliche versucht, werden Stimmen lauter, die eine neue Abstimmung fordern.
«Die Schweiz wird in Zukunft die Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern durch Höchstzahlen und Kontingente begrenzen», sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga (derzeit Bundespräsidentin) nach dem Volksentscheid vom 9. Februar 2014. Aber das sei mit dem Personenfreizügigkeits-Abkommen (PFZA) zwischen der Schweiz und der EU nicht vereinbar.
Im Februar dieses Jahres schickte die Regierung eine Vorlage zur Umsetzung der MEI in die Vernehmlassung. Darin schlägt sie einerseits ein strenges Kontingentsystem vor. Gleichzeitig versucht sie andererseits, die EU zu Neuverhandlungen des PFZA zu bewegen, aber bisher erfolglos. (Vgl. Infobox links).
Stromabkommen und Bilaterale
Anfang Mai hat die EU-Kommission ein Interims-Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU abgelehnt. Stattdessen beharrt sie laut verschiedenen Medienberichten darauf, dass es neue Abkommen mit Marktzugang für die Schweiz nur geben könne, wenn zuvor bei den institutionellen Fragen die künftige Überwachung der gemeinsamen Regeln und der Streitschlichtung geklärt sei. Zudem hätten die Mitgliedstaaten festgelegt, dass ohne kompatible Umsetzung der Zuwanderungsinitiative sogar die bestehenden Bilateralen gefährdet wären.
Obwohl sich die Regierung bei der Umsetzung «so gut wie möglich» an den Wortlaut der MEI zu halten versucht, erntet sie mit ihrer Strategie wenig Applaus, aber viel Kritik, sogar von den Initianten selbst. Hans Fehr, Nationalrat der Schweizerischen VolksparteiExterner Link (SVP), welche die Initiative lanciert hatte, wettert: «Das Konzept des Bundesrats ist nichts anderes als eine vorauseilende Kapitulation.»
Es sei nämlich «ein Ding der Unmöglichkeit», die Initiative konsequent umzusetzen und gleichzeitig das Abkommen neu zu verhandeln. «Die beiden Ziele widersprechen sich, weil die Personenfreizügigkeit mit Höchstkontingenten und Inländervorrang nicht vereinbar ist.» Den Einwand, dass die Initiative selber widersprüchlich sei, lässt Fehr nicht gelten: «Der Bundesrat muss zuerst sagen, wie er die Zuwanderung stoppt, und erst danach mit der EU verhandeln.»
Wenn die EU nicht akzeptiere, dass die Schweiz in Bezug auf den Ausländeranteil ein Spezialfall sei, müsse man halt eine Kündigung der Personenfreizügigkeit in Kauf nehmen. «Deswegen geht die Welt nicht unter», sagt der SVP-Nationalrat.
Eine Kündigung des PFZA hätte aufgrund der sogenannten Guillotine-Klausel zur Folge, dass sechs weitere Abkommen der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU keine Gültigkeit mehr hätten (Vgl. Infobox unten).
Aber Fehr bezweifelt, dass es die EU mit dieser Klausel ernst meine. «Sie profitiert von den Bilateralen mehr als die Schweiz», sagt er auf die Frage, ob 28 EU-Staaten auf den Anspruch eines Nicht-Mitgliedlandes eingehen werden.
«Bilaterale retten»
Es sei illusorisch zu glauben, dass die EU über die Einführung von Kontingenten verhandeln wird, hält EconomiesuisseExterner Link fest. Der Wirtschaftsdachverband befürchtet im Gegenteil grosse Schäden vor allem für die eigene Wirtschaft. «Eine Isolation als Folge der gekündigten Bilateralen I würde in der Schweiz zu rückläufigen Investitionen, zur Verlagerung von Produktion und Dienstleistungen ins Ausland und damit zu höherer Arbeitslosigkeit führen.» Ausserdem befürchtet die Wirtschaft noch mehr Bürokratie bei einer starren Umsetzung des Kontingentsystems.
Economiesuisse verlangt deshalb eine Lösung, die das Vertragswerk mit der EU nicht gefährdet. «Der Bundesrat soll eine Obergrenze für die Nettozuwanderung festlegen. Unterhalb dieser Grenze wäre die Personenfreizügigkeit wie bisher gewährleistet. Erst wenn diese überschritten würde, kämen Kontingente zur Anwendung. Also eine Schutzklausel, wie sie innerhalb der EU existiert», beschreibt Geschäftsleitungsmitglied Jan Atteslander den Vorschlag des Dachverbands..
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Konkrete Zahlen für die Obergrenze will Atteslander nicht nennen. Berücksichtigt werden müssten aber neben der Entwicklung der Zuwanderung auch der demografische Wandel und die wirtschaftliche Situation. Dass die gesamtwirtschaftlichen Interessen zu berücksichtigen seien, schreibe auch der neue Verfassungsartikel vor, zu dem das Stimmvolk mit der Annahme der MEI Ja gesagt hatte.
Dieses Modell hätte in der EU am meisten Chancen, ist Economiesuisse überzeugt. Am Prinzip der Personenfreizügigkeit werde nicht gerüttelt. Die Zuwanderung würde höchstens temporär beschränkt, wenn sie ein bestimmtes Mass überschreitet. «Das ist ein wesentlicher Unterschied zu einem starren Kontingentsystem, das eine permanente Diskriminierung zur Folge hätte», sagt Atteslander.
Potential im Inland ausschöpfen
Hans Grunder, Nationalrat der Bürgerlich-Demokratischen Partei (BDP) und selber Unternehmer, gibt dem Vorschlag von Economiesuisse wenig Chancen, weil er bezweifelt, dass Schutzklauseln mit dem PFZA kompatibel wären. Deshalb trommelt er selber einflussreiche Leute aus Politik und Wirtschaft zusammen, um sich gegen die «Abschottungspolitik» der SVP zu stemmen. An Bord geholt, hat er bereits den in den USA lebenden Berner Milliardär Hansjörg Wyss sowie Jobst Wagner, Präsident der Berner Rehau Gruppe, der ebenfalls zu den reichsten Schweizern gehört. Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins mit dem Namen «Vorteil SchweizExterner Link» gehören ausserdem ein halbes Dutzend Parlamentarier aus mehreren Parteien.
Erklärtes Ziel des Vereins, dem die Milliardäre Wyss und Wagner vorerst zwei Millionen Franken zur Verfügung stellen, ist ebenfalls die Rettung der Beziehungen mit der EU. «Die Bilateralen sind im Eimer, wenn die Masseneinwanderungs-Initiative wortgetreu umgesetzt wird». Deshalb will Grunder die Immigration im Einklang mit der Personenfreizügigkeit bremsen. Anstatt Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren, möchte der BDP-Nationalrat das Potential im Inland ausschöpfen. Um den Souverän nicht zu übergehen, der erst vor einem Jahr Ja gesagt hatte zur Zuwanderungsbremse mit Kontingenten, soll er noch einmal befragt werden. «Dann hätte das Volk wieder das letzte Wort.»
Entweder oder?
Auch das Komitee «Raus aus der Sackgasse» (RasaExterner Link), will die Regierung mit einer weiteren Abstimmung aus dem Dilemma führen. «Die Regierung ist vom Volk an der Nase herumgeführt worden», sagt Andreas Auer, emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich und Mitglied des Initiativkomitees. Der Souverän habe ab 1999 in mehreren Schritten Ja gesagt zu den bilateralen Abkommen, also auch zur Personenfreizügigkeit, aber diese im Februar 2014 mit der Annahme der MEI wieder in Frage gestellt.
«Jetzt befindet sich der Bundesrat in einem Widerspruch: Entweder er verletzt das bestehende Abkommen, was er nicht darf, weil dieses noch in Kraft ist, oder er setzt die Verfassungsbestimmung nicht um, was er ebenfalls nicht darf.» Und trotzdem habe er gar keine andere Wahl, als zu versuchen, aus diesem Dilemma herauszukommen.
Offensichtlich werde dieser Widerspruch auch in der Erklärung der Regierung, dass es jetzt grundsätzlich für alle Ausländer Kontingente gebe, aber dass man noch nichts zu den EU/Efta-Bürgern sagen könne, weil dies auf die Nachverhandlungen mit der EU ankomme. «Zur wichtigsten Frage hat die Regierung also noch gar nichts gesagt, sondern gehofft, dass es Neuverhandlungen gibt.» Aber dass Brüssel davon nichts wissen wolle, sei inzwischen klar geworden. «Deshalb ist der Vorschlag des Bundesrats obsolet.»
Auer hält nichts von «Schutzklauseln oder anderem Mischmasch zur Umsetzung der Initiative», weil «es sich einfach nicht machen lässt, Punkt.»
Deshalb müsse nun das Volk zwischen zwei Volksentscheiden entscheiden: Entweder Zuwanderungs-Kontingente oder Bilaterale.
Personenfreizügigkeit und Bilaterale
Das Fundament der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU ist das Freihandelsabkommen von 1972. Nach dem EWR-Nein von 1992 wurde das Vertragswerk auf inzwischen über 120 Abkommen ausgedehnt. Neben dem Personenfreizügigkeits-Abkommen gehören zu den sogenannten Bilateralen I weitere Abkommen über technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft und Forschung. Die sieben Abkommen sind mit einer sogenannten Guillotine-Klausel verknüpft. Wird eines der Abkommen nicht verlängert bzw. gekündigt, werden die übrigen ebenfalls ausser Kraft gesetzt. (Quelle: EDA)
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