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Big Pharma: Mit Entwicklungsoffensive gegen Antibiotika-Resistenz

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Rund 700’000 Menschen sterben jedes Jahr an Resistenzen gegen antimikrobielle Medikamente. © Keystone / Gaetan Bally

Mehr als 20 grosse Pharmaunternehmen investieren fast eine Milliarde US-Dollar in einen Fonds, um Patienten neue Antibiotika zur Verfügung zu stellen. Das sei "Pflästerli-Politik" und löse grundlegende Probleme in der Branche nicht, sagen Kritiker.

Zum ersten Mal richtet eine ausschliesslich aus Pharmaunternehmen zusammengesetzte Gruppe einen Fonds zur Lösung eines Problems der öffentlichen Gesundheit ein. Mit von der Partie sind auch die Schweizer Firmen Novartis und Roche.

Der vor gut einer Woche ins Leben gerufene sogenannte AMR AktionsfondsExterner Link hat zum Ziel, im nächsten Jahrzehnt zwei bis vier neue Antibiotika auf den Markt zu bringen. AMR steht für «antimikrobielle Resistenz».

Das sei eine «historische und einzigartige Initiative von mehr als 20 Pharmaunternehmen, um eine grosse Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit anzugehen und zu bewältigen», sagt Thomas Cueni. Er ist einer der Organisatoren des neuen Fonds und Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbands (IFPMA) mit Sitz in Genf.

Übermässiger und missbräuchlicher Einsatz von Antibiotika führte dazu, dass Bakterien Abwehrkräfte gegen die Medikamente entwickelten. So entstand der Bedarf an neuen Antibiotika.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jedes Jahr etwa 700’000 Menschen an Resistenzen gegen antimikrobielle Medikamente. Es wird erwartet, dass bis 2050 weltweit rund zehn Millionen Menschen sterben könnten, wenn keine neuen Medikamente auf den Markt kommen.

Die Ankündigung des AMR-Aktionsfonds während der Coronavirus-Pandemie unterstreicht die Schwere und Dringlichkeit der Krise. Der Einsatz von Antibiotika nimmt zu, da längere Spitalaufenthalte von Covid19-Patienten das Risiko bakterieller Infektionen erhöhen.

In seiner Rede zur Lancierung des Fonds bezeichnete WHO-Generaldirektor Tedros Ghebreyesus die Antibiotikaresistenz als «langsamen Tsunami, der ein Jahrhundert des medizinischen Fortschritts zunichte zu machen droht».

Die Gründung des Fonds zeigt auch, in welcher Position sich Big Pharma seit Ausbruch der Pandemie befindet: Einerseits gibt es Lob für die Entwicklung von Impfstoffen und Therapien. Andererseits hagelt es Kritik, weil nicht genug in die Bekämpfung von Infektionskrankheiten investiert wurde.

Die Antibiotika-Krise ist Teil eines grösseren Problems, mit dem sich das gewinnorientierte Pharma-Modell konfrontiert sieht: So meiden die Medikamentenhersteller Forschung und Investitionen in bestimmte Bereiche der öffentlichen Gesundheit, weil sie keine attraktiven Renditen für die Aktionäre bieten.

«Dies ist ein neues Modell für öffentlich-private Partnerschaften, bei dem Investitionen des privaten Sektors genutzt werden, um die Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit unter Anleitung des öffentlichen Sektors anzugehen», sagte WHO-Generaldirektor Ghebreyesus.

Cueni unterstrich, dass es beim Fonds nicht darum gehe, dass sich die Pharmaunternehmen quersubventionieren. Die Absicht sei nicht, dass grosse Firmen mit ihren Investitionen Geld verdienten.

Big Pharma spielt Investorin

Der Fonds ist ein willkommener Schritt vorwärts für die globalen Gesundheitsbehörden. Seit Jahren wird auf globaler und regionaler Ebene darüber diskutiert, wie die Finanzierungslücke überbrückt werden kann, um ein völliges Austrocknen der Antibiotika-Pipeline zu verhindern.

Mit dem neuen Projekt werden Medikamentenhersteller zu Risikokapitalinvestoren oder Spendern in einem Gebiet, in dem die meisten selber keine aktiven Forschungspipelines haben: Kleinere Unternehmen und Biotech-Firmen mit Antibiotika-Medikamenten in allen Entwicklungsstadien erhalten Geld und technische Unterstützung von Grossunternehmen.

Mehrere grosse Pharmakonzerne, darunter die in Basel ansässigen Unternehmen Novartis und Allergan, stellten vor kurzem ihre Antibiotika-Forschung ganz ein. Und zwei neu gegründete Antibiotika-Startups gingen 2019 in Konkurs. Novartis-Chef Vasant Narasimhan sagte bei der Lancierung des Fonds, dass sich die Suche nach einem neuen Medikament für ein resistentes Bakterium als unglaublich schwierig erweise. Er hofft, dass der Fonds die Innovation beschleunigt.

Die Novartis-Tochterfirma Sandoz ist nach wie vor einer der weltweit grössten Anbieter von Antibiotika, hat aber keine Pläne zur Wiederaufnahme der Antibiotika-Forschung angekündigt. Das in Basel ansässige Unternehmen Roche ist eines der wenigen grossen Unternehmen, das nach seinem Ausstieg vor Jahrzehnten kürzlich wieder in die Antibiotika-Forschung und -Diagnostik zurückgekehrt ist.

Laut einem im vergangenen April veröffentlichten Bericht des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts PewExterner Link gehen rund 95% der in der Entwicklung befindlichen Antibiotika-Produkte auf kleine Firmen zurück. Nahezu 75% dieser Firmen haben keine Produkte auf dem Markt. Schweizer Start-ups wie Bioversys, Polyphor, Basiliea und Actelion sind stark in der Antibiotika-ForschungExterner Link und -Entwicklung engagiert. Einige könnten von dem neuen Fonds profitieren.

«Es ist kein Geheimnis, dass sich Big Pharma aus wirtschaftlichen Gründen von Antibiotika zurückgezogen hat», sagt Bioversys-Chef Marc Gitzinger. Sein Biotech-Start-up mit Sitz in Basel arbeitet an einem Antibiotikum zur Bekämpfung hochresistenter gramnegativer bakterieller Infektionen. Big Pharma sei sich ihrer Verantwortung bewusst. «Wir brauchen neue Antibiotika, und die Besorgnis wächst, dass die verbleibenden Firmen nicht überleben könnten», so Gitzinger.

Fonds als Lückenbüsser

Gitzinger ist zwar erfreut über das Potenzial des Fonds, Unternehmen wie dem seinen bei der Forschung zu helfen. Er glaubt aber, dass langfristig grössere Reformen in der Branche erforderlich seien, um den Unternehmen Anreize zur Herstellung von Antibiotika zu geben. 

Der Fonds überbrücke für kleinere und mittlere Unternehmen sowie Medikamentenhersteller eine Lücke, so Gitzinger. Doch löse dies das Problem nicht grundsätzlich. Die Lösung sei vielmehr ein anerkannter Marktwert.

Cueni erklärte, dass der Verkauf von Antibiotika die Forschungs- und Entwicklungskosten nicht decke: «Im Moment ist das Schlimmste, das jemandem, der in Antibiotika investiert, passieren kann, dass er Erfolg hat. Denn dann verliert er mehr Geld, als wenn er nur die Forschungsausgaben abschreiben muss.»

Zwar sind sich alle einig, dass das gegenwärtige Antibiotika-Modell nichts mehr taugt. Doch darüber, wie das neue Modell aussehen soll, scheiden sich die Geister. Es gibt einige Ideen: So zum Beispiel ein Netflix-Abonnement-ModellExterner Link, das im Vereinigten Königreich getestet wird, und bei dem die Firmen für den Zugang zu Antibiotika im Voraus bezahlt werden.

Uneinig ist man sich aber immer noch darüber, wie der globale Zugang gewährleistet werden kann und es für Firmen gleichzeitig interessant bleibt, weiterhin Medikamente zu entwickeln. Bei der Lancierung des Fonds bot WHO-Generaldirektor Ghebreyesus die Unterstützung seiner Organisation an: Damit soll sichergestellt werden, dass dieser Herausforderung im neuen Fonds Rechnung getragen wird.

Diese Fragen haben für Manica Balasegaram Priorität. Er ist Exekutivdirektor der Globalen Partnerschaft für Forschung und Entwicklung im Bereich Antibiotika (GARDPExterner Link), die sich auf die späte Phase der klinischen Entwicklung konzentriert. Sie stellt sicher, dass Behandlungen verantwortungsbewusst eingesetzt und in Ländern mit niedrigem Einkommen zugänglich gemacht werden. Balasegaram macht sich Sorgen über das «Tal des Todes», das sich nach der Marktzulassung öffnet, nach wie vor weitgehend unterfinanziert ist und vernachlässigt wird.

Michael Altorfer, Chef des Branchenverbands Swiss Biotech Association, sagt, Regierungen und globale Gesundheitsbehörden – insbesondere die WHO – müssten anerkennen, dass neue Antibiotika wertvoll seien und einen höheren Preis rechtfertigten. «Solange die WHO kommuniziert, dass Antibiotika billig sein müssen, damit auch Menschen in Entwicklungsländern Zugang haben, werden Investoren den Markt verlassen.»

(Übertragung aus dem Englischen: Kathrin Ammann)

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