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Mit «humanistischer» KI gegen China und die USA

Lab42-Wissenschaftler schaut auf seinen Bildschirm.
Der deutsche Wissenschaftler Rolf Pfister leitet Lab42, ein neues Labor für "menschliche" und "neutrale" künstliche Intelligenz, das im Juli 2022 in Davos eröffnet wurde. Lab42 - jv

Wissenschaftler:innen aus aller Welt forschen in einem neuen Labor in Davos an Algorithmen mit menschenähnlicher Intelligenz. Die Schweizer Alpenstadt positioniert sich als Forschungszentrum für "politisch neutrale" künstliche Intelligenz, um als Gegengewicht zwischen China und den Vereinigten Staaten zu wirken.

In einer historischen Villa im Zentrum von Davos erforschen Wissenschaftler:innen die Grundlagen der menschlichen Intelligenz. Sie sind überzeugt, dass die Entschlüsselung des Gehirns entscheidend für die Entwicklung künstlicher Intelligenz, kurz KI.

Genauer forschen sie an KI, die der Menschheit dient anstatt autokratischen Regierungen oder grossen Interessengruppen. Auf diese Weise erhoffen sie sich, Herausforderungen wie Krankheiten oder gar dem Klimawandel zu begegnen.

Als neutrales Land mit starken Forschungskapazitäten hat die Schweiz das Potenzial, die Ansätze Chinas und der USA herauszufordern, die KI zur Durchsetzung ihrer Machtmodelle nutzen: Diktatur auf der einen Seite, Kapitalismus auf der anderen.

«Wir brauchen auf der Welt einen dritten KI-Forschungspol, der nicht als Konzern oder Staatsunternehmen organisiert ist», sagt der Bürgermeister von Davos, Philipp Wilhelm. «Was fehlt, ist ein neutraler, unabhängiger und humanistischer Ansatz.»

Eine Wiege für neutrale KI

Davos, bekannt als Gastgeber des Weltwirtschaftsforums WEF, ist seit langem Heimat renommierter Forschungsinstitute. Doch bis vor kurzem war KI im Tal kaum ein Thema. Künstliche Intelligenz wurde eher mit grösseren Schweizer Städten wie Zürich, Lausanne und Lugano in Verbindung gebracht.

Das änderte sich, als Pascal Kaufmann, Zürcher Neurowissenschaftler mit einer Leidenschaft für alte Sprachen und Philosophie, beschloss, in Davos ein internationales Labor für KI-Forschung auf «menschlicher Ebene» einzurichten. Im Juli 2022 öffnete das Lab42 in der Villa Fontana seine Türen.

Kaufmann und Wilhelm sind überzeugt, dass die Alpenstadt mit ihren 11’000 Einwohner:innen die besten Voraussetzungen mitbringt, um Talente aus der ganzen Welt anzuziehen und zu einem weiteren Schweizer KI-Hub zu werden. «Davos ist eine weltweit führende Wissenschaftsstadt, eingebettet in eine fantastische Natur. Die Luft ist sauber und die Infrastruktur ist dank des WEF erstklassig», sagt Kaufmann.

Bürgermeister Philipp Wilhelm erklärt, wie Davos zur Stadt der Wissenschaft wurde und welche Herausforderungen für die Zukunft der Forschung im Tal anstehen:

Kaufmann pflegt nach eigenen Angaben eine «freundschaftliche» Beziehung zu Davos. Seine NGO Mindfire, die sich für eine KI einsetzt, die sich der menschlichen Intelligenz annähert, lancierte 2018 in Davos ihre erste Initiative mit dem Ziel, den Code unseres Gehirns zu knacken. Dazu lud er Expert:innen aus der ganzen Welt ein.

Einige Jahre später, als sein Team diese Initiativen in ein Labor mit einem physischen Standort und einer virtuellen Gemeinschaft umwandeln wollte, wurde es von der Stadt mit offenen Armen empfangen. «Der Davoser Ansatz besteht darin, die wichtigsten globalen Themen zu erforschen. Die Digitalisierung ist eines davon», sagt Bürgermeister Wilhelm.

Kluge Köpfe in Davos gefragt

Das Netzwerk, das Kaufmann und seine Kollegen aufbauen wollen, geht allerdings weit über die Alpen hinaus. Über Online-Challenges in Form von Rätseln und Multi-Level-Spielen, die aktuelle Machine-Learning-Ansätze und -Algorithmen noch nicht lösen können, sucht das Lab42-Team nach den klügsten Köpfen auf dem Gebiet der KI und bringt diese miteinander in Kontakt.

Ein Beispiel ist der Abstraction of Reasoning Corpus, kurz ARC, eine Challenge, die der französische Software-Ingenieur und KI-Forscher François Chollet 2019 ins Leben rief. ARC gilt als Intelligenztest für Algorithmen und besteht aus 1000 verschiedenen Aufgaben. Viele von ihnen erfordern abstraktes Denken, was die Fähigkeiten von KI zum heutigen Zeitpunkt übersteigt.

Die Teilnehmer:innen, die den Test erfolgreich bestehen, erhalten Geldpreise und werden eingeladen, in Davos an der Forschung des Labors mitzuwirken. Rund 100 Wissenschaftler:innen und Kooperationspartner:innen haben das Labor seit Juli besucht, doch das reicht laut Kaufmann nicht. «Um einen wirklichen Durchbruch in der KI zu erzielen, brauchen wir Hunderttausende von Wissenschaftler:innen, die zusammenarbeiten», sagt er.

eine Art Intelligenztest für künstliche Intelligenzen
Ein Beispiel aus dem ARC-Wettbewerb, der als eine Art Intelligenztest für künstliche Intelligenzen gilt. François Chollet

Das durch Spenden finanzierte Labor beschäftigt ein Dutzend Forscher:innen. Zu den Geldgeber:innen gehören mehrere Schweizer Kantone, die Gemeinde Davos, der Hersteller MaxonMotor sowie die Banken UBS und GKB. Dazu kommen weitere private Sponsor:innen, deren Namen Kaufmann jedoch nicht nennt.

Menschliche Intelligenz reicht nicht aus

Bislang konnten die fortschrittlichsten KI-basierten Werkzeuge nur 20% des ARC-Tests lösen. Aus diesem Grund setzen Kaufmann und sein Team darauf, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu ergründen. Sie wollen die KI in Bereichen wie Abstraktion und logisches Denken voranbringen. «Die menschliche Intelligenz von Individuen reicht nicht aus, um die Probleme der Welt zu lösen, doch genau da müssen wir ansetzen», sagt er.

Ende Januar startet das Lab42 einen globalen Wettbewerb, den ARCathon II, in der Hoffnung, noch mehr Talente für die Teilnahme zu begeistern. «Wir wollen den Punkt erreichen, an dem wir Roboter bauen, die komplexe Aufgaben erfüllen, wie das Pflanzen von Bäumen zur Bekämpfung des Klimawandels oder die Entwicklung von Behandlungen für unheilbare Krankheiten», sagt Rolf Pfister, der das Labor leitet.

KI-Tests sind nicht das einzige Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. In einem Schreibwettbewerb, der Ende Dezember zu Ende ging, wurden Meinungen von Expert:innen aus weniger KI-nahen Disziplinen wie Philosophie, Biologie und Kunst, eingeholt. Der Drittplatzierte war ein Musikstudent. «Gerade dieser transdisziplinäre Blick von aussen ist sehr wertvoll und liefert neue Ideen», so Pfister.

Laut Pfister verlassen sich die meisten Technologieunternehmen trotz der damit verbundenen Einschränkungen auf die gleichen Ansätze, die beispielsweise für den Chatbot ChatGPT verwendet werden. Seit seiner Markteinführung im November letzten Jahres schlägt diese Technologie hohe Wellen. Sie ist in der Lage, menschenähnliche Interaktionen zu simulieren und zu schreiben.

Der Tech-Unternehmer Elon Musk twitterteExterner Link, die KI sei «erschreckend gut» und «nicht weit von einer gefährlich starken KI entfernt». Pfister vertritt die Ansicht, dass ChatGPT zwar beeindruckende Ergebnisse liefert, aber unzuverlässig ist. Der Grund: Ihr fehlt wirkliches Verständnis für die Welt.

kaufmann, hassabis, wilhelm, foto
Pascal Kaufmann, Gründer von Lab42 (links) und Bürgermeister Philipp Wilhelm (rechts) zeichnen Demis Hassabis, Gründer des KI-Unternehmens DeepMind (2014 von Google übernommen) und Gewinner des Global Swiss AI Award aus. Am 19. Januar 2023 in Davos. Lab42

Diese Art von Verständnis ist das Herzstück einer «menschlichen» oder menschzentrierten KI, sagt Kaufmann. «Sobald wir das Funktionsprinzip von Intelligenz verstanden haben, wird Europa endlich in der Lage sein, einen qualitativen Durchbruch bei der Anwendung von KI auf menschlicher Ebene zu erzielen und mit China und den Vereinigten Staaten konkurrieren können, die sich hauptsächlich auf die Optimierung von Deep Learning- und Brute-Force-Ansätze konzentrieren», sagt er. Kaufmann ist der Überzeugung, dass Davos und die Schweiz einen politisch neutralen Rahmen für die Entwicklung verantwortungsvoller, inklusiver und demokratischer KI-basierter Technologien bieten können.

Sophie-Charlotte Fischer vom Zentrum für Sicherheitsstudien CSS der ETH Zürich teilt die Ansicht, dass die Schweiz eine wichtige Rolle im Bereich der KI spielen kann. Fischer sieht die Schweiz als glaubwürdigen Schauplatz für die internationale KI-Forschung und Governance-Initiativen, weil sie Standort der Vereinten Nationen und eines der am stärksten globalisierten Länder der Welt ist. Zudem ist die Schweiz nicht Teil der EU und neutral.

Fischer, deren Forschungsschwerpunkt auf KI-Governance und dem technologischen Wettrennen zwischen den USA und China liegt, sagt jedoch auch, dass die Zusammenarbeit im Bereich der KI immer schwieriger wird. Der globale Wettbewerb habe sich verschärft – wie die kürzlich eingeführten US-Exportkontrollen zeigen, die auf Chinas Halbleiterindustrie abzielen.

Davos entwickeln

Wenn Davos nicht gerade von Winter-Tourist:innen oder WEF-Besucher:innen überrannt wird, bleibt es geografisch eher isoliert. Laut Bürgermeister Wilhelm sei dies im digitalen Zeitalter kein Problem mehr, weil die Abhängigkeit von den grossen Zentren abnimmt und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie an Bedeutung gewinnt. Davos biete mit seinen Forschungsinstituten, dem Skifahren im Winter und dem Wandern im Sommer eine hohe Lebensqualität, fügt er hinzu.

Doch der Mangel an Wohnraum, insbesondere für einheimische Familien und Berufstätige, ist etwas, das Wilhelm Sorgen bereitet.

«Wir arbeiten intensiv an einer Wohnbaustrategie, damit in den nächsten Jahren genügend Wohnraum für Familien zur Verfügung steht, der für Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen zugänglich ist», sagt er. Dem 33-jährigen Sozialdemokraten Wilhelm, einem der jüngsten Bürgermeister in der Geschichte der Stadt Davos, liegen eine familienfreundliche Politik und berufliche Perspektiven für die junge Generation am Herzen: «Wir wollen, dass auch unsere jungen Leute am Fortschritt der Forschung, der in Davos gemacht wird, teilhaben können.»

Editiert von Sabrina Weiss und Veronica DeVore. Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

Illustration: Artificial Intelligence, Künstliche Intelligenz

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