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Grüezi-Adieu – was die Schweiz zum Musterland der Mehrsprachigkeit macht

Die Schweizer Bundesverfassung in vier Sprachen
Alles vier Mal: Die Schweiz betreibt für ihre Mehrsprachigkeit einen grossen Aufwand. Lohnt sich das wirtschaftlich? Keystone / Christian Beutler

Vier Sprachen, kein Separatismus: Die Schweiz gilt als Idealbild einer mehrsprachigen Nation. Aber wie kommt es dazu? Darüber spricht im Landesmuseum Stéphane Dion. Der Botschafter Kanadas in Deutschland ist ein Experte für Multilingualismus.

Erst vor zwei Jahren hat der separatistische Nationalismus in Kanada sein Comeback gegeben. Nachdem es eine Weile ruhig war um die Unabhängigkeitsbewegung im französischsprachigen Québec, legte die sezessionistische Partei «Bloc queébécois» bei den Wahlen 2019 massiv zu und brachte die Trennung zwischen einem französisch- und einem englischsprachigen Kanada zurück ins politische Bewusstsein.

Stéphane Dion, kanadischer Botschafter in Deutschland und Sondergesandter für die Europäische Union, hat Erfahrung mit dem Thema. Der Politikwissenschaftler, der nach einer Lehrtätigkeit an der Universität von Montreal in der Politik alle möglichen Ämter durchlief, hatte immer wieder mit der nationalen Einheit im multilingualen Kanada zu tun, unter anderem in den Jahren 2001 bis 2003 als Minister für Amtssprachen.

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Dion hat eine klare Meinung, warum es in der Schweiz keinen Separatismus der Sprachgruppen gibt – mal abgesehen von der binnenschweizerischen Jura-Frage -, anders als in Spanien, Belgien und seinem Heimatland. Und er sieht in der multilingualen Konstellation vor allem Vorteile.

Am 2. November spricht Dion in der Dienstagsreihe des Landesmuseums in ZürichExterner Link über Plurilingualismus und Kohäsion, zusammen mit dem Liechtensteiner Michel Liès, dem Präsidenten des liberalen Think Tanks Avenir Suisse. SWI swissinfo.ch ist Medienpartner des Anlasses.

Wir haben mit Stéphan Dion über den «wundersamen» Zusammenhalt der Schweiz gesprochen.

SWI swissinfo.ch: Die Grenze zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz wird gerne als «Röstigraben» bezeichnet, die multilinguale Konstellation wird also kulinarisch travestiert. Was sagt das über die Schweiz aus?

Stéphane Dion: Dass die Schweiz ein vielfältiges Land ist… und lecker!

Gibt es in Kanada einen vergleichbaren Ausdruck, haben Sie einen Ahorn-Sirup-Graben?

Das glaube ich nicht. Ahornsirup kann man sowohl auf Französisch als auch auf Englisch geniessen! Andererseits sprechen wir oft von den «zwei Einsamkeiten», um zum Ausdruck zu bringen, dass Frankophone und Anglophone nicht genug miteinander reden. Doch so isoliert können sie gar nicht sein, denn der Prozentsatz der gemischten Haushalte – gemeint sind frankophon-anglophone Paare – ist sowohl in Quebec als auch in anderen Teilen Kanadas hoch. Wie kann Liebe zwischen Menschen entstehen, die nicht miteinander sprechen dürfen? Ein Mysterium.

Stéphane Dion
Dass die Schweiz keinen Separatismus der Sprachregionen kennt, ist auch ein Wohlstandsphänomen, das ist eine These von Stéphan Dion, kanadischer Botschafter in Deutschland und Experte in Fragen des Multilingualismus. Brent Lewin/Bloomberg

Unter den multilingualen Ländern gilt die Schweiz als Idealbild der nationalen Kohäsion, anders als in Kanada, Spanien oder Belgien fehlen separatistische Strömungen. Warum?

Als ersten Grund dafür sehe ich den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz: Die italienischsprachigen Schweizerinnen und Schweizer haben wenig Anreize, sich Italien anzuschliessen, die französischsprachigen Frankreich oder die deutschsprachigen Deutschland.

Und dann ist da die historische Tatsache, dass die religiöse Spaltung nicht mit der sprachlichen zusammenfiel, da ist die demografische Stabilität der Sprachgruppen und ihre relative wirtschaftliche Gleichheit sowie das Fehlen einer sprachlich isolierten föderalen Einheit wie sie zum Beispiel das französischsprachige Québec in Kanada darstellt. Aber das ist genau das Thema, über das ich im Landesmuseum reden werde.

Die Schweiz betrieb vor allem im letzten Jahrhundert eine geschichtsvergessene Mythologie, die auch heute noch nachwirkt. Was denken sie war deren Einfluss auf die nationale Identität?

Ein Volk, eine Zivilisation darf seine Geschichte nicht vergessen, auch nicht die dunklen Seiten, die ein Gefühl der Scham hervorrufen. Auch Kanada hat dunkle Seiten in seiner Vergangenheit, denen es sich nur langsam stellt, insbesondere im Hinblick auf die Behandlung der indigenen Völker.

Ein Land wächst daran und hat die besten Chancen auf Zusammenhalt, wenn es sich mit seinen Fehlern in der Vergangenheit auseinandersetzt. Es wird zu Recht gesagt, dass die Geschichte notwendig ist, um die Gegenwart zu informieren.

Es heisst aber auch, dass wir die Gegenwart nicht allein mit dem Massstab der Vergangenheit beurteilen und die Zukunft nicht allein mit dem Massstab der Vergangenheit betrachten sollten.

Ich möchte hinzufügen, dass wir unsere Vorfahren nicht mit den Werten von heute beurteilen sollten. Es gibt zu viele Versäumnisse, aber auch zu viele Anachronismen in der Betrachtung der Vergangenheit.

Braucht es überhaupt so etwas wie eine nationale Idee? Oder ist Kohäsion ein Produkt der institutionellen und demokratischen Ebene – in der Schweiz von Parteien, die sprach- und regionsübergreifend agieren, oder von politischen Mitbestimmungsrechten, die immer wieder andere Fraktionen zur Folge haben?

Ich denke, wir profitieren davon, dass wir mehrere Identitäten haben. Ich bin ein stolzer Québecois und ein stolzer Kanadier. Identitäten addieren sich, sie subtrahieren sich nicht.

Was stiftet in Kanada nationalen Zusammenhalt, gibt es eine gemeinsame Vorstellung nationaler Identität, hinter die sich auch eine Separatistin respektive ein Separatist in Québec vorbehaltlos stellt?

Der Stolz darauf, Kanadierin oder Kanadier zu sein, rührt von der wunderschönen Weite des Landes wie von den Werten Offenheit und Respekt, mit denen Kanada in der ganzen Welt identifiziert wird. Diesem Ideal näher zu kommen, ist es, was die Kanadierinnen und Kanadier motiviert, sich gemeinsam für die Verbesserung ihres Landes einzusetzen. Ich glaube, dass viele in der Unabhängigkeitsbewegung in Québec dieses Ideal teilen und dass sie davon überzeugt werden müssen, dass sie ihre Heimat in ganz Kanada und nicht nur in Québec finden können.

Anders als die Westschweizer ist die frankophone Bevölkerung in Kanada isoliert – und einer global dominanten englischen Sprache ausgesetzt. Kann man sagen, das schafft andere Befindlichkeiten?

Ganz genau. Der nordamerikanische Kontinent ist nicht mehrsprachig wie Europa. Englisch hat eine grosse Anziehungskraft. Die Notwendigkeit, die französische Sprache zu schützen, muss ein ständiges Anliegen im politischen Leben Kanadas sein, in Québec und anderswo im Land.

In der Schweiz mit ihren vier Sprachen beobachten wir das Phänomen, dass Englisch gerade von Jungen als Brückensprache genutzt wird. Was sollen wir davon halten? Ist das ein Verlust nationaler Identität oder eine willkommene Entkoppelung derselben von der Sprache?

Da Englisch die Weltsprache schlechthin ist, haben junge Menschen eindeutig ein Interesse daran, sie zu lernen. Ich glaube nicht, dass wir uns darüber Sorgen machen müssen, solange viele junge Schweizerinnen und Schweizer neben ihrer Muttersprache eine weitere Sprache lernen: Französisch, Deutsch, Italienisch oder Rätoromanisch.

Sie waren in Ihrer langen politischen Karriere unter anderem Minister für Amtssprachen. Was haben Sie für den Zusammenhalt Kanadas unternommen?

Ich habe einen Plan zur Wiederbelebung der Amtssprachen ausgearbeitet und umgesetzt, über den heute noch gesprochen wird. Dieser Plan konzentrierte sich auf das wachsende Phänomen der bereits erwähnten exogamen französisch-englischen Paare. Ziel war es, diese Familien dabei zu unterstützen, ihr zweisprachiges Erbe an ihre Kinder weiterzugeben. Dies bleibt die grösste Herausforderung für die Zukunft des Französischen in Kanada.

Fördern Sprachkompetenzen in multilingualen Staaten automatisch die nationale Kohäsion?

Auf jeden Fall tragen sie dazu bei. Wir sollten uns dessen stärker bewusst sein. Mehrsprachigkeit ist aber nicht nur eine Frage des nationalen Zusammenhalts, sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit in der heutigen Welt. Jedes Mal, wenn ich mich an einer Diskussion darüber beteiligt habe, wie die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Kanadas verbessert werden kann, habe ich darauf hingewiesen, dass die Tatsache, dass Kanadas zwei Amtssprachen internationale Sprachen sind, einen wirtschaftlichen Vorteil darstellt, den wir besser nutzen könnten. Das zeigen mehrere Studien.

Was die jüngeren Generationen betrifft, so erweist man ihnen einen Bärendienst, wenn man sie einsprachig werden lässt. Sie werden im Vergleich zu Jugendlichen in ihrem Alter, die sich bemüht haben, mehr als eine Sprache zu lernen, benachteiligt sein.

Welche politische Forderung ist daraus abzuleiten?

Eine grundlegende Verantwortung: Mehrsprachige Staaten haben die Pflicht, der Welt zu zeigen, dass ihre sprachliche Vielfalt ein Reichtum ist, auf den eine ganze Bevölkerung stolz sein kann. Kanada und die Schweiz müssen dies unter Beweis stellen, und zwar nicht nur in Bezug auf die weit verbreiteten Sprachen – Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch – sondern auch in Bezug auf Minderheitensprachen wie Rätoromanisch oder die Sprachen der indigenen Völker Kanadas.

Wir müssen zeigen, dass die sprachliche Vielfalt keine Quelle der Spaltung eines Landes ist, sondern ein beneidenswerter Vorteil in der heutigen Welt.

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