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«Für mich sind gleiche Chancen der Schlüssel zum Erfolg»

Die Schweiz habe aus ihrer Geschichte gelernt, "dass Reden wahrscheinlich nützlicher ist als Kämpfen", meint Michel Liès. swissinfo.ch

Unternehmen können soziale und ökologische Fragen nicht länger ignorieren. Das sagt Michel Liès, Präsident der Zurich Insurance Group und des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse.

swissinfo.ch: Ist der soziale Zusammenhalt der Schweiz wirklich so stark, wie wir immer behaupten?

Michel Liès: Ja, das ist auch mein Eindruck. Vielleicht liegt es ja an der überschaubaren Grösse des Landes. Aber ich glaube, wir haben auch gelernt, miteinander zu leben. Dabei hilft das politische System. In der Vergangenheit gab es in der Schweiz zwar auch religiöse Konflikte. Aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass Reden wahrscheinlich nützlicher ist als Kämpfen. Die Welt könnte in dieser Hinsicht bestimmt etwas von der Schweiz lernen.

«Je besser wir andere Länder und Völker verstehen, desto besser können wir zusammenleben»: Nach Ansicht von Michel Liès darf der Chef eines multinationalen Unternehmens den Kontakt nicht verlieren zur Realität der Länder, in denen er tätig ist. Der mehrsprachige Luxemburger interessiert sich sehr für die Schweiz und ist fasziniert von ihrem sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhalt.

Nach seinem Mathematikstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich begann Liès eine lange Karriere in der Versicherungsbranche. Er war unter anderem Chef des Rückversicherers von Swiss Re. Seit 2018 ist Liès Präsident des Verwaltungsrats der Zurich Insurance Group. Seit diesem Jahr ist er zudem Präsident des Stiftungsrates des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse.

Zusammenhalt funktioniert vor allem dann, wenn es eine gewisse Form der Gleichheit gibt, wenn sich niemand verloren fühlt. Das Schweizer System baut auf Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten auf, die einer grossen Zahl von Menschen zur Verfügung stehen.

«Ich glaube, dass Zusammenhalt vor allem dann funktioniert, wenn es eine gewisse Form der Gleichheit gibt, wenn sich niemand verloren fühlt.»

Michel Liès, Avenir-Suisse-Präsident

Wo versagt der Schweizer Zusammenhalt?

Wenn man das Haar in der Suppe sucht: Ich sehe eine gewisse Spannung zwischen Stadt und Land im Zusammenhang mit den neuen Herausforderungen, vor denen die Schweiz vor allem auf der internationalen Bühne steht. Hier gibt es noch viel zu tun, aber es wird bereits daran gearbeitet, auch von der Regierung.

Zusammenhalt entsteht, wenn es nicht zu viele Frustrierte gibt. Frustration spaltet und sie entsteht oft aus dem Gefühl heraus, in der Politik nicht ausreichend vertreten zu sein. Das Schweizer System erlaubt es aber, einen sehr grossen Teil der Bevölkerung zu vertreten. Ich glaube deshalb nicht, dass es in der Schweiz viele Menschen gibt, die das Gefühl haben, ihre Stimme werde in Bern oder in ihrem Kanton überhaupt nicht gehört – auch wenn sie vielleicht nicht so gut gehört wird, wie sie das gerne hätten.

Sie sprechen von Chancengleichheit und Gleichberechtigung, Begriffe, die normalerweise eher von Gewerkschaften als von Unternehmern verwendet werden.

Ich habe grosse Mühe mit dieser Rechts-Links-Dichotomie. Den Begriff Gleichheit verbinde ich überhaupt nicht mit dem einen oder anderen politischen Lager. Es geht vor allem darum, dass keine Frustration entsteht, weil die Menschen das Gefühl haben, nicht die gleichen Chancen wie andere zu haben.

Für mich ist Chancengleichheit der Schlüssel zum Erfolg. Ehrlich gesagt glaube ich, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftswelt diese Vorstellung teilen – zumindest in der Schweiz.

Sie waren Chef von Swiss Re und sind jetzt Präsident der Zurich Insurance Group. Sind solche internationalen Grossunternehmen und ihre oft ausländischen Führungskräfte überhaupt noch sensibel für den Zusammenhalt der Schweiz?

Es gibt tatsächlich immer mehr ausländische Führungskräfte in der Schweiz. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass das wirtschaftliche Gewicht der Schweiz grösser ist als ihr demographisches Gewicht. Folglich gab es in der Tat eine Zeit, in der die Beziehung zwischen den Managern grosser Unternehmen und dem Land enger war. Wir hatten Schweizer Manager, die in der Schweizer Politik eine wichtige Rolle spielten.

Aber: Dass die Schweiz so viele ausländische Unternehmen und Manager anzieht, ist auch eine Folge ihres Zusammenhalts und ihrer politischen Stabilität. Ein ausländischer Manager zu sein, bedeutet nicht, dass es an Interesse am Zusammenhalt der Schweiz mangelt. Vergessen wir nicht, dass mehrere grosse Schweizer Unternehmen von Ausländern gegründet wurden. Aber Sie legen den Finger auf einen wunden Punkt, und das ist auch einer der Gründe, warum ich mich bei Avenir Suisse engagiert habe.

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Aber ist es nicht schwierig für jeden Manager, ob ausländisch oder nicht, das Unternehmen mit den Prinzipien der sozialen und ökologischen Verantwortung in Einklang zu bringen?

Zunächst muss man persönlich von der Bedeutung dieser Prinzipien überzeugt sein. Dann muss man erkennen, dass solche Themen für die Mitarbeitenden, die Kunden und die Investoren immer wichtiger werden und sie einen danach beurteilen. Ich stelle fest, dass diese Themen in den Gesprächen mit den Investoren immer häufiger auftauchen. Sie stellen immer mehr Fragen und drängen die Führungskräfte, das sehr ernst zu nehmen.

Wenn ein Unternehmen erfolgreich sein soll, muss die Führung in jedem Fall auf die Zufriedenheit der Angestellten achten, darauf, wie sie diese Zufriedenheit widerspiegeln, wenn sie mit Kunden sprechen, und was die Kunden von dem Unternehmen erwarten. Wenn man kurzfristig denkt, ist das natürlich anders. Aber wenn Sie langfristig denken, können Sie nur diesen Weg gehen. In einer Versicherungsgesellschaft ist das noch selbstverständlicher als in anderen Sektoren, da wir mit unseren Kunden einen langfristigen Vertrauensvertrag abschliessen müssen. Das Ziel einer Versicherungsgesellschaft ist es, eine bestimmte Form der Nachhaltigkeit zu schaffen.

Ende November stimmt das Schweizer Volk über die Konzernverantwortungs-Initiative ab. Wie beurteilen Sie diese Vorlage?

Einerseits ist die Absicht durchaus lobenswert. Andererseits scheint mir der Ansatz nicht sehr effektiv zu sein. Er zielt darauf ab, anderen Ländern Schweizer Recht aufzuzwingen. Ich weiss nicht, ob die das besonders sympathisch finden werden. Das Auferlegen eigener Gesetze ist ein Zeichen für mangelndes Vertrauen in die örtlichen Gesetze.

Die meisten Schweizer Unternehmen sind sich ihrer Verantwortung im Ausland sehr bewusst. Ich bin überzeugt, dass die Initiative, wenn sie angenommen wird, eher negative Auswirkungen haben wird. Ich hoffe, dass sie nicht dazu führen wird, dass sich Schweizer Unternehmen aus Ländern zurückziehen, in denen sie bisher eher zum Wohlergehen der lokalen Bevölkerung beigetragen haben.

Wir wissen aber auch, dass multinationale Unternehmen ohne strengere Regulierung kein Interesse daran haben, sich in die richtige Richtung zu bewegen.

Ich glaube, sie bewegen sich, weil – wie gesagt – der Druck gestiegen ist, von Aktionärinnen und Aktionären, von Kundinnen und Kunden, von Mitarbeitenden. Von unseren Kunden bekomme ich mit, dass die meisten Unternehmen, die in Bezug auf die Umwelt unter Druck stehen, eine Menge tun, um ihre Situation zu verbessern.

Natürlich können wir darüber sprechen, wie schnell sich die Unternehmen bewegen. Aber ich halte eine Übergangsfrist für wichtig. Wir sollten nicht abrupt entscheiden, dass das, was gestern gut war, morgen schlecht wird. Unternehmen mit Zehntausenden von Angestellten können ihre Strategie nicht von heute auf morgen ändern. Ich glaube nicht, dass die Welt besser wird, wenn wir gute und schlechte Noten vergeben. Stattdessen sollten wir den Unternehmen helfen, die sich wirklich verändern wollen.

«Die meisten Unternehmen, die in Bezug auf die Umwelt unter Druck stehen, tun eine Menge, um ihre Situation zu verbessern.»

Die Debatte betrifft auch den Finanzsektor. Die Regierung will, dass die Schweiz zum internationalen Vorreiter für nachhaltige Anlagen wird. Bislang hinkt die Schweiz jedoch bei der Regulierung in diesem Bereich hinter der EU her.

Als Finanzdienstleister treffen wir uns regelmässig mit den Behörden in Bern, um herauszufinden, wie und wie schnell wir die Dinge verbessern können. Es wird derzeit intensiv daran gearbeitet, die Schweiz zu einem führenden nachhaltigen Finanzplatz zu machen – aus dem einfachen Grund: Das ist eine sehr wichtige Wette auf die Zukunft.

Tatsache ist: Der Finanzsektor will mitreden, statt nur mit Gesetzen konfrontiert zu werden, die dann mehr oder weniger respektiert werden. Regeln aufzustellen ist schön und gut, aber noch besser ist es, privatwirtschaftliche Akteure an einem Tisch zu haben, die davon überzeugt sind, dass diese Regeln sinnvoll sind. Und ich denke, dass sie heute sehr davon überzeugt sind.

(Übertragen ins Deutsche von Mischa Stünzi)

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