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«Gottseidank kein Minarett», sagt der Nachbar

Am Tag der offenen Tür kamen Gläubige und Neugierige in Scharen in die Moschee in Wil. swissinfo.ch

Sie stand am Anfang der Minarett-Initiative. Jetzt ist die lang umstrittene Moschee im St. Gallischen Wil eröffnet. Am Wochenende überrannten Neugierige das Gebetshaus. Imam Bekim Alimi gab den Chefdiplomaten. Die islamische Gemeinde zeigte ihre lockere Seite, und die Schweizer Besucher guckten schüchtern, neugierig - tolerant. 

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Latife Abasi trägt kein Kopftuch. Die junge Frau zählt auf: «Zuerst wäscht man die Hände, dann spült man den Mund, dann die Nase, schliesslich das ganze Gesicht, alles immer dreimal.» Sie betet täglich. «Nach dem Gesicht wäscht man sich die Unterarme, rechts, dann links, bis zu den Ellenbogen, dreimal, dann legt man die rechte Hand auf den Kopf.» «Das aber nur einmal.» Ihre Schwiegermutter unterbricht, sie trägt Kopftuch. Und ein breites Lächeln.»Dann kommen die Ohren, vor allem die Ohrläppchen, die Ohrstecker nimmt man raus, dann der Nacken und schliesslich noch die Füsse, all das wieder dreimal.» Die Waschung geschieht vor jedem Gebet, also fünfmal. Jeden Tag.

Tausende kamen aus Neugier

Die lang umstrittene Moschee in Wil ist eröffnet. Am Wochenende wurden die Xhamia (albanisch für Moschee),»ihr» Imam Bekim Alimi und die gesamte Islamische Gemeinde regelrecht überrannt.» Wir haben mit etwa 1500 Besuchern gerechnet», so Alimi. Bei 6500 hätten sie aufgehört zu zählen, ergänzt ein junger Mann. Er trägt ein «Staff»-Schildchen. Dies allein am Sonntag, am Tag der offenen Tür. Die feierliche und friedliche Eröffnung am Samstag zählte wohl nochmals so viele. Tag der offenen Tür. Für alle. Es riecht und glänzt nach Neu. Lange Schlange vor der Tür. Schuhe ausziehen. Ebenfalls für alle. Und tatsächlich sind heute alle Türen für alle offen. Normalerweise beten Männer und Frauen getrennt. Im ersten Geschoss des runden Kuppelbaus befindet sich der Gebetsraum für Männer, 260 Quadratmeter, mit einem Mihrab, einer Nische im Gebetsraum. Richtung Osten. Richtung Mekka. Und hier auch Richtung Säntis. Zur Rechten befindet sich das Minbar, die Kanzel für die Freitags- und Feiertagspredigt, zur Linken der Kursi (arabisch für Stuhl), eine erhöhte Sitzfläche für Gedanken und Predigten ausserhalb der Feiertage.

Teppich, Kopftuch, Lockerheit

Sowohl Mihrab wie auch Minbar und Kursi sind heute vor allem in Kinderhand. Für ein Foto setzen sich Jungen und Mädchen hin, sprechen ins Mikrofon. Andere toben sich im Saal aus, wenn gerade ein wenig Platz ist, spielen Fangen. Ein Mädchen schlägt ein Rad. Ein Junge lacht. Der weiche Boden, bestehend aus Teppich an Teppich, lädt dazu ein.Normalerweise nimmt jeder seinen eigenen Gebetsteppich mit in die Moschee. «Hier ist das anders», sagt Semire Ibrahimi. Der gesamte Boden ist Teppich, Gebetsplätze sind mit von Hand gesticktem weissem, sich wiederholendem Muster gekennzeichnet. Ibrahimi ist eine von unzähligen jungen Frauen und Männern mit «Staff»-Schildchen, die an diesem grossen Tag die Tausenden Besucher durch die Moschee führen. Sie trägt Kopftuch. Aber nur in der Moschee. Aus Respekt. Privat oder bei der Arbeit als Dentalassistentin ist sie unverhüllt. Sie ist Schweizerin. Aus Wil. Und Mazedonien.

Kritik ist gut, sagt der Imam

Der gesamte Gebetsraum der neuen Moschee ist dreistöckig. Er beheimatet zwei Emporen, eine dient als Gebetsraum für Frauen, der obere als Zuschauertribüne für Interessierte aller Nationen und Religionen. «Uns ist wichtig, dass wir hier ein Begegnungszentrum haben», sagt der Imam. Jeder könne kommen, sich ein eigenes Bild machen und diskutieren. Denn neben den positiven oder zumindest interessierten Reaktionen gibt es selbstredend auch kritische Stimmen. Zum Beispiel die Frage, ob das Zentrum nicht auch eine Anziehungskraft auf radikale Muslime habe. «Die Art von Rückmeldung begrüssen wir auch sehr, denn nur so kann man darüber sprechen. Das ist gut», sagt der Imam. Heute ist jedoch auch die Frauenempore eher Zuschauerempore. Irgendwo am Rand knien zwei Frauen am Boden und beten. Richtung Osten, Richtung Mekka, Richtung Säntis. Das Gebet der älteren ist zu Ende. Sie zückt ihr Handy, benutzt es als Spiegel und zupft ihr weisses Kopftuch zurecht.

Eine Moschee braucht kein Minarett

Ein junger Mann – «Staff» auch er – beantwortet fleissig viele Fragen. Er sei froh, dass sie diese Moschee haben dürften; und nein, ein Minarett vermisse er nicht, das sei doch einfach ein Symbol. Ähnlich erklärte es auch der Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze in einem Interview mit der Zeitung «Welt», kurz nach der Minarett-Initiative Ende 2009. Eine Moschee brauche aus theologischer Sicht weder Minarett noch Mauern, Moschee könne überall stattfinden.

Ursprünglich war die Moschee mit Minarett geplant. Doch es formierte sich Widerstand, welcher 2009 ein Auslöser für die Anti-Minarett-Initiative war. Die Diskussionen hätten dann dazu beigetragen, sich gegen aussen hin zu öffnen, sagt Imam Bekim Alimi. Als der Islamische Verein schliesslich vor vier Jahren das Baugesuch, selbstredend ohne Minarett, eingereicht hatte, gingen über 300 Einsprachen ein. Angst vor Lärm. Angst vor Unruhe. Die Stadt Wil wies sie alle ab.

Und wer hat all das bezahlt?

«Gottseidank kein Minarett», sagt ein Schweizer Familienvater. Seine Familie wohne nicht weit von der neuen Moschee und hätte keine Lust gehabt, sich diesen Singsang jeden Tag anhören zu müssen. Aber so sei das in Ordnung. «Und wenn sie jetzt schon steht, kommen wir gerne vorbeischauen.»

Fragen gab es auch um die Finanzierung. Der Bau war auf 5 Millionen veranschlagt. Wie konnte ein lokaler Verein ohne Hilfe aus dem Ausland dieses Projekt also stemmen? Mit viel Handarbeit und Mitgliederbeiträgen, mit Spenden und Sponsorenanlässen, beteuert Bekim Alimi bei jeder Gelegenheit.

«Ich finde es sehr gut, dass sie hier einen Platz erhalten haben», sagt die Wilerin Sabine Bruni.

Ein Mann beginnt zu singen. Beginnt das Gebet. Von der Empore kann man zusehen, wie sich der Männergebetsraum langsam füllt. Immer mehr Männer steigen in das Gebet ein. «Der singt aber schön!», sagt eine ältere Dame mit Krausekopf. Die Menschen drängen sich an die Geländer der beiden Emporen und schauen zu. Die einen neugierig gebannt. Die anderen etwas zurückhaltend schüchtern. «Eigentlich dürfen die Frauen den Männern beim Beten nicht zusehen. Sie müssten auf den Boden schauen», sagt Dentalassistentin Ibrahimi. Heute jedoch schauen sie, manche filmen sogar. Ein Bild, das man wohl so schnell nicht wieder sehen wird.

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