«Solange die Menschen auf der Strasse bleiben, ist der Coup unvollendet»
Die UN-Sondergesandte für Myanmar, Christine Schraner Burgener, will die Putschgeneräle in Myanmar in Verhandlungen zur Vernunft bringen. Sonst drohten eine humanitäre Krise und ein Bürgerkrieg, sagt sie im Interview.
Während unseres Zoom-Gesprächs sitzt Christine Schraner Burgener im Home-Office in Bern, wo sie als UNO-Sondergesandte für Myanmar gerade versucht, ein Stück Weltgeschichte mitzuschreiben.
Seit sich General Min Aung Hlaing am 1. Februar überraschend an die Macht geputscht hat, täglich Protestierende von den Sicherheitskräften getötet und nachts dutzende Aktivisten ohne Anklagen verhaftet werden, versucht sie auf eine Deeskalation hinzuwirken.
19 Stunden pro Tag arbeite sie aktuell, erzählt sie. Auch aufgrund der Zeitverschiebung. Sie steht früh auf, damit sie möglichst viel Zeit hat, um mit ihren zwei Mitarbeitenden vor Ort, mit Protestierenden, Ministern, Botschafterinnen und NGOs zu sprechen.
Und sie arbeitet bis spät in die Nacht, weil dann Briefings des UNO-Sicherheitsrats und der Generalversammlung in New York anstehen sowie Videokonferenzen mit Aussenministern. «Am Sonntag war ich zum ersten Mal seit sechs Wochen für eine Stunde draussen zum Spazieren», erzählt Schraner Burgener. Es hört sich nicht nach einer Klage an.
Lange Zeit scheute die UNO-Sondergesandte Medienauftritte. Das wurde ihr oft angekreidet. Sie verurteile die Menschenrechtsverletzungen im Land – insbesondere den Genozid an der muslimischen Minderheit der Rohingya – nicht laut genug, hiess es. «Hätte ich das gemacht, dann wäre ich nur eine Stimme von vielen gewesen. Meine Aufgabe war eine andere.»
Christine Schraner Burgener wurde 1963 in Meiringen geboren und wuchs in Japan auf. 1991 trat sie in den diplomatischen Dienst des EDA ein.
Nach Stationen in Marokko, Bern und Dublin, wurde Schraner Burgener stellvertretende Direktorin in der Völkerrechtsdirektion des EDA und Leiterin der Abteilung Menschenrechte und Humanitäres Völkerrecht.
Ab 2009 war sie Botschafterin in Thailand, ab 2015 in Deutschland. Drei Jahre später ernannte sie Uno-Generalsekretär António Guterres zur UNO-Sondergesandten für Myanmar.
Dies nur wenige Monate nach der Vertreibung von hunderttausenden von Angehörigen der muslimischen Minderheit der Rohingya durch die burmesische Armee. 2022 wird sie die Leitung des Staatssekretariats für Migration (SEM) übernehmen.
Zum erfolgreichen Voranbringen ihres Mandats – der Unterstützung der Demokratisierung Myanmars – gehörte es, leise zu sein. Nur so konnte sie ihre Kontakte zur Armee, zur NLD von Aung San Suu Kyi und zu den ethnischen Minderheiten im Land ausbauen und mit allen Parteien im Gespräch bleiben.
Mit dem Coup wurde diese Vorsicht obsolet. Seither sieht sie es als ihre Verantwortung, die Öffentlichkeit über den offenen Krieg, der das Militär gegen das eigene Volk führt, zu informieren. «Mein Mandat war von Anfang an sehr schwierig, daran hat der Coup nicht viel geändert», sagt Schraner Burgener. «Ausser dass es heute um Leben und Tod geht. Darum, dass auf der Strasse nicht noch mehr Menschen erschossen werden.»
Die militärischen Sicherheitskräfte gehen brutal gegen die Protestierenden vor, SRF News, 25.03.2021:
swissinfo.ch: Frau Schraner Burgener, kurz vor unserem Gespräch führten sie eine dreistündige Videokonferenz mit Schlüsselpersonen der prodemokratischen Proteste aus allen Teilen Myanmars. Was haben Ihnen die Menschen vor Ort erzählt?
Christine Schraner Burgener: Heute waren alle extrem frustriert. Sie hätten nun genug Statements und Reden von Regierungsvertretern und der UN gelesen und gehört. Nun müsse endlich etwas geschehen.
Sie wollen, dass die burmesische Armee durch eine internationale militärische Intervention von weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgehalten wird. Meine undankbare Aufgabe ist es, ihnen zu erklären, dass es nicht zu einer solchen Intervention kommen wird.
Für eine UNO-Resolution basierend auf der Schutzverantwortung bräuchte es einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrats. Ein solcher wird durch die Vetomächte China und Russland verhindert.
Die Reaktion meiner Gesprächspartner darauf: ‹Dann soll halt ein einzelner Staat seine Armee schicken.› Das geht natürlich auch nicht. Aber immerhin, es gibt mittlerweile kein Land mehr, das die aktuelle Situation in Myanmar gutheisst.
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Die Kritik der ASEAN-Mitglieder wird lauter und vor wenigen Tagen hat Indonesien verkündet, dass es gemeinsam mit der UN einen ASEAN-Gipfel zu Myanmar veranstalten möchte. Meine Hoffnung ist, dass die Armee zunehmend realisiert, dass sie komplett isoliert ist.
Doch kümmert das die Generäle der Junta überhaupt noch? Während Ihres letzten Kontakts mit der Armee hat Ihnen der stellvertretende Chef gesagt, dass sich die burmesischen Streitkräfte auf eine Zeit mit sehr wenig Freunden einstellen. Eine Anspielung auf die 50-jährige Militärdiktatur, während welcher das Land vom Westen mit Sanktionen belegt und geächtet wurde.
C.S.B.: Tatsächlich glaubt die Armee, dass eine Rückkehr in die Zeit vor 2011 möglich sei. In meinen Augen ist das jedoch eine Illusion. Wir leben im Jahr 2021, die Bevölkerung macht da nicht mehr mit.
Zehn Jahre Demokratisierung kann man nicht einfach ungeschehen machen. Sehr viele Junge, die nun auf der Strasse sind, kennen nichts anderes als die Freiheit. Wer heute 20 oder 25 ist, für den ist es absolut normal, dass er sich frei äussern kann und die Medien kritisch über die Regierung und Armee berichten.
Trotz Rückschlägen in den letzten Jahren, war ich immer wieder erstaunt, wie offen die Burmesen und Burmesinnen heute Kritik äussern. Wer einmal so aufgewachsen ist, der will nie mehr zurück. Die Armee hat das vollkommen unterschätzt.
Und diesmal sind es nicht mehr ’nur› die Mönche, die auf die Strasse gehen, wie bei den Protesten von 1988. Der Widerstand geht durch alle Schichten, Bevölkerungsgruppen und Religionen hindurch und wird von den meisten ethnischen bewaffneten Gruppen unterstützt. Das ist wichtig, birgt aber gleichzeitig das Potential, dass sich der Konflikt zu einem Bürgerkrieg ausweiten könnte.
Die Proteste dauern bald zwei Monate. Hunderttausende haben ihre Arbeit im zivilen Ungehorsam niedergelegt, viele Unternehmen sind geschlossen, in manchen Vierteln Yangons herrscht Kriegsrecht, die Sicherheitskräfte terrorisieren die Menschen immer offensichtlicher. Wie gross ist die Not in der Bevölkerung mittlerweile?
C.S.B.: Wir sind bald am Punkt einer humanitären Krise angelangt. Die meisten können kein Geld mehr abheben, Nahrungsmittel werden knapper. Die Gesundheitsversorgung im Land ist komplett zusammengebrochen; von einer Covid-19-Prävention sprechen wir gar nicht erst.
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Zudem sollten wir nicht vergessen: Bereits vor dem Putsch gab es in Myanmar aufgrund von Konflikten mit ethnischen Minderheiten rund 300’000 intern Vertriebene; 60’000 kamen alleine in den letzten zwei Jahren durch den Krieg der Armee gegen die Arakan Army im Gliedstaat Rakhine hinzu.
In den letzten Tagen gab es auch Berichte, dass zunehmend Menschen aus Yangon fliehen, weil sie sich in ihren Wohnvierteln nicht mehr sicher fühlen. Grund sei der Terror der Sicherheitskräfte.
C.S.B.: Ja, viele suchen mittlerweile bei bewaffneten ethnischen Gruppen auf dem Land Schutz oder fliehen nach Thailand. An der Grenze, wo schon heute tausende von burmesischen Flüchtlingen leben, werden derzeit Auffangzentren eingerichtet. Die meisten Flüchtlinge versuchen jedoch in einem Nachbarland illegal unterzutauchen, weil die Angst vor den Behörden zu gross ist.
Sie haben in einem Interview kürzlich gesagt, dass sie täglich rund 2000 Nachrichten von Menschen in Myanmar erhalten. Was schreiben Ihnen die Leute?
C.S.B.: Oft schicken sie Videos von den Protesten. Manchmal wird einem fast schlecht dabei. Zum Beispiel zeigen sie, wie freiwillige Helfer von Polizisten aus einem Krankenwagen herausgezerrt werden. Danach schlagen sie ihnen auf offener Strasse mit den Gewehrkolben solange auf den Kopf, bis die Helfer tot sind.
Ich habe auch Videos gesehen, auf denen Polizisten unbewaffneten Demonstranten aus nächster Nähe in den Kopf schiessen. Kürzlich erhielt ich eine Nachricht einer wildfremden Frau, die mir schrieb, dass sie bereit sei für die Freiheit zu sterben. Hauptsache sie und vor allem ihre Kinder müssten nicht nochmals in einer Diktatur leben.
Beantworten sie solche Hilferufe?
C.S.B.: So gut es geht. Gestern hatte ich eine Stunde Zeit, um mir einige Nachrichten anzuschauen und 200 davon kurz zu beantworten. Ich versuche den Leuten Mut zu machen und zeige meine Anerkennung für ihre Bereitschaft weiter für die Freiheit auf die Strasse zu gehen.
Natürlich ist das einfach aus der warmen Stube in Bern heraus. Aber immerhin sollen die Menschen vor Ort wissen, dass ich in Gedanken jeden Tag zu 100 Prozent bei Ihnen bin und versuche im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Sie müssen aber auch wissen, dass sie keine Wunder von mir erwarten dürfen.
Letztes Wochenende haben Sicherheitskräfte bei Protesten in Hlang Tharyar, einem Aussenbezirk Yangons, dutzende Menschen erschossen. Daraufhin hatte ich das Gefühl, dass deutlich weniger Menschen auf die Strasse gehen. Ist der Widerstand gebrochen?
C.S.B.: Nein, lediglich die Taktik der Protestierenden hat sich geändert. Bis jetzt scheuten sie die Konfrontation mit den Sicherheitskräften nicht. Nun wählen sie gezielt Orte aus, wo Polizei und Armee noch nicht sind und verschwinden wieder, sobald diese auftauchen.
Die Protestierenden wurden vorsichtiger, sind aber noch immer extrem entschlossen. Das macht mir Mut. Denn solange die Menschen auf der Strasse bleiben, ist der Coup nicht vollendet.
Was wir unbedingt verhindern müssen, ist eine Rückkehr zum ‹Business as usual›. Sobald alle wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und sich einer neuen Diktatur unterordnen, wird es sehr schwierig, die Bevölkerung nochmals zu mobilisieren. Dass es deshalb weitere Opfer geben wird ist natürlich unglaublich tragisch. Manchmal verzweifle ich fast, dass wir nicht mehr machen können.
Die Situation in Myanmar scheint extrem verfahren: Der UNO-Sicherheitsrat wird sich nicht auf eine internationale Intervention einigen können und die Militärjunta wird alles tun, um sich an der Macht zu halten. Selbst wenn es zu Kompromissen käme, kommt für die Prodemokratiebewegung eine Rückkehr zum Zustand vor dem Coup nicht mehr in Frage, als sich die zivile Regierung die Macht mit der Armee teilte. Wie wollen Sie da vermitteln?
C.S.B.: In der Frage, wer die legitime Regierung stellt, gibt es für mich keine Kompromisse. Das sind die gewählten Vertreter, die entweder verhaftet wurden, sich verstecken oder derzeit nach Thailand fliehen. Ich habe aber durchaus Ideen, wie es gelingen könnte, die Armee zur Vernunft zu bringen. Wichtig ist dabei – wie fast immer in Asien – dass alle ihr Gesicht wahren können. Für solche Vermittlungen muss ich jedoch persönlich mit den Verantwortlichen sprechen können.
Sie haben zwei Mitarbeitende vor Ort, suchen aber seit Wochen nach einer Möglichkeit persönlich nach Myanmar zu reisen. Woran scheitert dieses Unterfangen?
C.S.B.: Es gibt kritische Stimmen im UNO-Sicherheitsrat, die befürchten, dass das Militärregime durch meine Präsenz zusätzliche Legitimität erhalten könnte. Doch ich bin überzeugt, dass dies lediglich eine Frage der Kommunikation ist. Wenn von Beginn weg klar ist, dass ich dorthin gehe, um mein Missfallen über die aktuelle Situation zu äussern und um Lösungen zu finden, dann trägt das nicht zur Legitimität der Junta bei.
Brauchen Sie zum Reisen als Sondergesandte überhaupt das Einverständnis des Sicherheitsrats?
C.S.B.: Nein, ohne Pandemie wäre ich wahrscheinlich schon längst dort. Covid-19 hat die Ausübung meines Mandats stark erschwert. In praktisch allen südostasiatischen Ländern gilt aktuell eine zweiwöchige Quarantänepflicht. Hinzu kommt: Der Flughafen in Yangon ist geschlossen; es gibt praktisch nur noch Rettungsflüge für Ausländer und eine Verbindung der UN alle zwei Wochen ab Kuala Lumpur.
Weshalb wäre es für sie so wichtig, nun vor Ort zu sein?
C.S.B.: Gewisse Dinge kann man nicht per Videochat besprechen, sondern nur unter vier Augen. Wenn ich mit der Armee telefoniere, werden die Gespräche stets aufgezeichnet. Damit besteht die Gefahr, dass Passagen herausgeschnitten und in einen anderen Kontext gestellt werden. Bei persönlichen Gesprächen gibt es hingegen immer Momente, in denen man jemandem auch sehr vertrauliche Dinge zuflüstern kann. Auf dem Weg zu den Verhandlungen zum Beispiel oder kurz danach.
Und wie könnte eine Lösung aussehen, bei welcher die Generäle ihr Gesicht wahren könnten?
C.S.B.: Zuviel möchte ich nicht verraten. Aber man muss mit den richtigen Leuten sprechen. Die Armee wird es weiterhin geben. Die Frage ist nur, wer diese anführt. Ich bin überzeugt, dass es derzeit noch Auswege gibt. Auch innerhalb der Armee gibt es diejenigen, die zunehmend realisieren, dass die Lage für sie aussichtlos wird, wenn sie so weitermachen.
Sie waren in den letzten drei Jahren dutzende Male in Myanmar und haben dort sowohl Aung San Suu Kyi getroffen, mit der sie eine langjährige Freundschaft verbindet, als auch Vertreter der Armee. Wie überraschend kam dieser Coup für Sie?
C.S.B.: Ich habe immer wieder davor gewarnt, dass es zu einem Putsch kommen könnte – auch im Sicherheitsrat. Die meisten glaubten ich übertreibe.
Es war unfair von der internationalen Gemeinschaft, Aung San Suu Kyi persönlich für die Gräuel des Militärs zu kritisieren. Ihre Situation war unmöglich. Wie kann man regieren, wenn die Armee stets ein Vetorecht hat und fast alle Entscheide blockieren kann?
Irgendwann wandte sie sich von allen ab und konzentrierte sich darauf, das Land, für das sie soviel geopfert hatte, trotz Widerständen voranzubringen. Und nun ist sie wieder in Haft; es ist zum Verzweifeln…
Wissen Sie wie es ihr geht?
C.S.B.: Nein, ich hatte seit dem Coup keinen Kontakt mehr zu ihr. Wir stehen aber in Kontakt mit ihrem Anwalt, der uns mitteilte, dass sie auf aktuellen Videobildern gesund und sehr bestimmt ausgeschaut habe. Das hat mich ein wenig beruhigt. Ich nehme es als Zeichen, dass auch Aung San Suu Kyi noch nicht aufgegeben hat.
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